Zwei Orte, zwei Geister

von CHRISTIAN SEMLER

Was unterscheidet eigentlich den „Geist von Davos“ von dem Porto Alegres? Eigentlich recht wenig, wenn man den Versicherungen von Klaus Schwab, dem Gründer und Chef des WEF, des Weltwirtschaftsforums, Glauben schenken darf. Hat nicht Schwab selbst, wie er jüngst in einem Interview mit der Weltwoche versicherte, schon 1996 darauf hingewiesen, „dass die Globalisierung ohne soziale, kulturelle und umweltschützerische Komponente langfristig nicht weitergehen kann“. Werden zu der diesjährigen Davoser Tagung nicht 200 Vertreter globalisierungskritischer Initiativen und Verbände eingeladen, um dem gemeinsamen Ziel zu dienen: Humanisierung der Weltökonomie? Ist also die Entgegensetzung von „Davos“ und „Porto Alegre“ nichts als ein Schlagstock, allein dazu geeignet, Emotionen zu schüren und der Linken zu einer billigen Konfrontation mit einem Feind zu verhelfen, der gar nicht existiert?

Die Globalisierungskritiker, die sich bereits im dritten Jahr, zeitgleich mit Davos, massenhaft wie noch nie in Porto Alegre versammeln werden, sehen die Sache naturgemäß anders. Antonio Martins von Attac Brasilien hält das Davoser Forum nach wie vor für eine Wegbereiterin der Deregulierung und des Sozialabbaus im Weltmaßstab. Dass die Globalisierungsfürsten in Management und Politik ihr Herz für die sozialen und ökologischen Weltprobleme entdeckt hätten, ist für ihn bloße Rhetorik, Begleitmusik bei der fortlaufenden Liberalisierung der Märkte.

30.000 Franken Eintrittsgeld

Tatsächlich bestehen, was den Charakter der Foren, das Selbstverständnis wie die Selbstdarstellung der Akteure, die Herangehensweise an die Probleme und die Methodik der Lösungswege angeht, zwischen beiden Versammlungen grundlegende Unterschiede. Natürlich muss man auf der Hut sein, wenn man sie charakterisiert, muss allzu billige Schemata vermeiden. Porto Alegre steht nicht für die Elendsquartiere der Dritten Welt, so wenig wie Davos heute noch ein Ort exklusiver Vergnügungen ist. Und Porto Alegre ist weit davon entfernt, als Beratungs- und Organisationzentrum der weltweiten Habenichtse zu funktionieren. Ebenso wenig kann Herr Schwab und sein Davoser Unternehmen für sich in Anspruch nehmen, den Globalisierungsprozess mit irgendwelchen nennenswerten intellektuellen Impulsen zu pushen.

Dies vorausgesetzt, soll die erste der wichtigen Differenzen beider Versammlungen benannt werden: geschlossen die eine, offen die andere. Die Eintrittskarte nach Davos ist schwer zu erlangen und kostet nicht wenig – Mitglieder zahlen 30.000 Franken pro Jahr plus zwischen 10.000 und 30.000 Franken Teilnahmegebühr. Nicht jeder, der anklopft, wird eingeladen. Für Porto Alegre gilt: Wer die Reisekosten aufbringt, ist willkommen. Alle Veranstaltungen stehen dem Publikum offen. In Davos schaltet frei der Guru Schwab, in Porto Alegre müht sich ein Organisationskomitee aus Initiativen und NGOs, das Chaos zu meistern. Davos legt seinen Ehrgeiz darein, sich mit Berühmtheiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu schmücken. Auch in Porto Alegre wünscht man sich die Präsenz der prominenten Globalisierungskritiker. Man liebt und verehrt sie, misstraut ihnen aber gleichzeitig. Werden sie nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich und von der guten Sache abziehen? Denn für jeden Linken gilt immer noch, dass die Völker respektive die Massen entscheiden und nicht die herausragenden Individuen.

Warum lieben die Linken Massenveranstaltungen, während es die Mächtigen und Möchtegern-Machthaber eher mit geschlossenen Klubs halten? Für Letztere ist die Erklärung einfach. Sie sind überzeugt davon, dass ihr Platz an den Schalthebeln berechtigt ist, quasi eine Naturtatsache. Die Sprache Schwabs ist hier instruktiv. Er spricht stets nur von „leadern“, ob es sich nun um Geistliche, Medienleute, Ökonomen oder Politiker handelt. Denn es sind nun mal die Leader, die die Geschicke der Welt bestimmen.

Leader lieben Leader

Außerdem dient die geschlossene Gesellschaft als Clearingstelle, als Ort diskreter Beratungen und Absprachen. Bevor sich Davos zum Zentrum der Erklärung ökonomischer Welträtsel ernannte, war die informelle Absprache zwischen Politikern und Wirtschafslenkern sogar der einzige deklarierte Daseinszweck des Forums. Leader lieben Leader, ungeachtet scharfer Konkurrenz und neidischer Seitenblicke potenzieren sie gegenseitig ihr Gefühl der Bedeutsamkeit.

Obwohl die praktischen Resultate von Davos in krassem Gegensatz zum Selbstbild der Teilnehmer stehen, kann dieses Selbstbild doch auf starke Resonanz seitens des Publikums rechnen. Ein wahrer Pfingstglaube verführt die Öffentlichkeit, an den Erfolg von runden oder ovalen Tischen zu glauben, an denen die Elite, also die Politiker, Unternehmer, Vertreter diverser Einflussgruppen und professionelle Denker Platz genommen haben. Dann zählt plötzlich nicht mehr der Gegensatz der Interessen, sondern die harmonische Anstrengung im Dienst des Gemeinwohls, Davos – der Ort müsste nach dem Geschmack des Bundeskanzlers sein.

Hierzu also im Gegensatz: Die Linken lieben Massenbewegungen und Massenveranstaltungen, natürlich nur ihre eigenen, dies aus gutem Grund. Thomas Mastnak, slowenischer Soziologe und Friedensaktivist, antwortete einmal auf die Frage, ob fortschrittliche Massenbewegungen denken können, ohne zu zögern: „Ja!“ Er setzte hinzu: „Und sie freuen sich“. Sie, die häufig vor Ort als Minderheit agieren, freuen sich ihrer großen Zahl. Sie freuen sich auch am Gewimmel, an der Vielzahl oft divergierender Gruppierungen, der Buntscheckigkeit, die nur durch ein einziges Bedürfnis zusammengehalten wird: den Durst nach Gerechtigkeit.

Aber wieso können linke Massenbewegungen denken? Ist es nicht so, dass, wer in die Massen eintaucht, sein reflektierendes Ich abgibt, eintritt ins Reich, wo das Unbewusste waltet, wo die Libido sich dem Führer der Massenbewegung zuwendet? Sind es nicht stets zweifelhafte, der Vernunft verschlossene Energien, die sich in den Massen Bahn brechen? Müsste Antonio Martins, der erwähnte brasilianische Attac-Aktivist, nicht zu des Altmeisters „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ greifen, ehe er im Interview sagen könnte: „Als Brasilianer wissen wir um die Rolle großer Feste als Katalysatoren latenter Energien.“ Und wäre es hier nicht angemessener, mit Elias Canetti, dem Autor von „Masse und Macht“, von „Festmeuten“ zu sprechen?

All diese pessimistischen Einschätzungen setzen voraus, dass, wo Massen versammelt sind, die Individualität ausgelöscht wird. Aber das trifft nur für Versammlungen zu, die diese Auslöschung inszenieren, wo die versammelten Menschen wie Herden behandelt werden, die ihrem Herdentrieb freien Lauf lassen sollen. Aber gerade die Beobachtung sehr großer linker Massenversammlungen, Demonstrationen und Feste seit den 60er-Jahren zeigt uns, dass beides zusammengehen kann: durchgehaltene Individualität, Vielfalt der Einzel- und Gruppenidentitäten und jenes „ozeanische“ Gefühl, von dem alle als Teilnehmer der „Masse“ ergriffen werden. Die entfesselten Energien, von denen Antonio Martins sprach, sie übersetzen sich in die Sprache der politischen Vernunft, die allerdings viele Zungen hat. Dies setzt freilich voraus, dass die Linken nicht ein weiteres Mal der Versuchung erliegen, sich als programmatische „Weltpartei“ zu fühlen, wenn sie es aufgeben, im Gleichklang zu singen und im Gleichschritt zu marschieren, wenn sie den Sargdeckel fest auf dem Grabmal des Führerkults halten.

Nirgends lässt sich die Differenz zwischen Davos und Porto Alegre sinnfälliger fassen als in den Formen, in denen jeweils die demokratische Willensbildung ablaufen soll. In Davos herrscht die Politik der verschlossenen Tür, mag Schwab das noch so entschieden bestreiten. Die Macher des WEF wählten die Doppelrolle des Moderators und Politikberaters. Mittlerweile wird es ihnen in dieser Doppelrolle etwas ungemütlich, beruhte ihr Rat doch allzu häufig auf falschen Annahmen und Fehlprognosen, zum Beispiel hinsichtlich des Siegeszuges der „New Economy“. Jetzt sehen sie sich in der Rolle des Inspirators, wollen modellhaft weltweite medizinische Projekte oder soziale Selbstverpflichtungen von Firmen für die Produktion in der Dritten Welt in Gang bringen. In der Theorie gescheitert, setzen sie auf beispielhafte Praxis. Eine Fluchtbewegung. Geblieben aber ist das elitäre Selbstverständnis, die Selbstbespiegelung als Avantgarde der kapitalistischen Reform.

Partizipation braucht Zeit

In Porto Alegre hingegen herrscht der Geist der Selbsttätigkeit und der Partizipation. Vielfach haben in der jüngsten Vergangenheit, in der Anti-AKW- wie in der Friedensbewegung Massenversammlungen den Beweis erbracht, dass Selbstorganisation, demokratische Verfahren und sogar vernünftige Beschlüsse möglich sind. Es dauert nur etwas länger und strapaziert stärker die Nerven. Aus diesem Grund ist die Ankündigung, man werde sich diesmal in Porto Alegre auf ein Aktionsprogramm, vielleicht sogar auf ein paar ständige Institutionen einigen, nicht von vornherein als Zeichen der Bürokratisierung, der Erstarrung und des Niedergangs zu lesen. Leute mit dem Davos-Blick werden es schwer haben, sich in Porto Alegre durchzusetzen. Und umgekehrt.