Herausgeputzte Drehscheibe

Von den alten Fenstern blättert der Lack. Erst jetzt wurde mit der Instandsetzung begonnenDie Eröffnungsfeiern der Kulturhauptstadt fanden ohne Wahlkampf statt. Nur die FPÖ spielte nicht mit

aus Graz RALF LEONHARD

Was soll eigentlich Kultur? „Kultur“, sagt der Grazer Stadtrat Ernest Kaltenegger, „muss alle Bereiche erfassen und auch jene teilhaben lassen, die am klassischen Kulturbetrieb nicht teilnehmen.“ Kaltenegger ist Stadtrat der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), der einzige für diese Partei im Land, und er hat seinen Posten, weil er diese Auffassung von Kultur nicht erst vertritt, seit Graz europäische Kulturhauptstadt ist. Seit Jahren setzt er sich für Leute ein, deren Wohnverhältnisse dem großen Titel „Kulturhauptstadt“ Hohn sprechen.

Maria Weidinger in der Hermann-Löns-Gasse 28 ist so ein Mensch. In ihrem Leben blieb der Kulturgenuss auf ein paar heimliche Blicke bei Proben im Schauspielhaus beschränkt. Sie war dort vierzig Jahre lang als Aufräumefrau tätig. Jahrzehntelang hieß es für sie um 4 Uhr früh aufstehen und um 6 Uhr zur Arbeit erscheinen. Maria Weidinger blickt ohne Bitterkeit zurück. In ihrem blauen Arbeitskittel und Filzpantoffeln sitzt sie in ihrer Wohnküche. Hier findet sich aus jedem Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts ein Stück: die schlichte Kredenz aus den Zwanzigerjahren, die chinesische Plastikuhr, die moderne Einbauspüle. Lächelnd erinnert sie sich an die Schauspieler, die sie persönlich kennengelernt hat und von denen manche inzwischen in Wien Karriere gemacht haben. Zu Hause herrschte Enge. Auf 50 Quadratmetern Wohnfläche drängte sich nicht nur das Ehepaar Weidinger mit den beiden Söhnen, sondern auch ein Schwager und die Schwiegereltern. Die ließen nicht zu, dass an der Wohnung etwas verändert wurde. Deswegen hat die 73-jährige Witwe, die heute allein lebt, noch immer keine Dusche.

Die Triester Siedlung im Bezirk Gries gehört zu den sanierungsbedürftigen Wohngegenden. Seit die Gemeindebauten Ende der Zwanzigerjahre hochgezogen wurden, ist dort nichts passiert. Von den Fenstern, die kein Lüftchen mehr aussperren können, geschweige denn die aggressive Kälte dieses Winters abhalten, blättert der Lack. Erst jetzt wurde mit der Instandsetzung begonnen.

Graz, mit einer runden Viertelmillion Einwohner Österreichs zweitgrößte Stadt, zeigt sich für das Kulturspektakel von seiner besten Seite. Schon beim in alle Welt übertragenen Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, diesmal vom genialen Grazer Nikolaus Harnoncourt dirigiert, wurden die architektonischen Highlights der Stadt in musikalische Werbebotschaften verpackt. Spätgotik und Renaissance, Barock und Jugendstil fügen sich in dieser Stadt zu einem unverwechselbaren Ganzen. Der berühmte Uhrturm aus dem 16. Jahrhundert hat für ein Jahr einen Schatten bekommen, mit der Murinsel – einem schwimmenden Schneckenbau für Freiluftveranstaltungen und ein Kaffeehaus – hat der italienische Stararchitekt Vito Acconci ein neues Wahrzeichen geschaffen. Werbegags für die Kulturmetropole.

Was neben den vielen Veranstaltungen für die Bewerbung um den Status der Kulturhauptstadt 2003 den Ausschlag gegeben haben dürfte, ist wohl die aktive Rolle der steirischen Hauptstadt als Drehscheibe für Südosteuropa, glaubt Kulturamtsleiter Peter Grabensberger. Eine Rolle, die Graz im Projekt Trigon nicht erst in Hinblick auf die Kulturhauptstadt entwickelt hat.

Graz liegt zwei Autostunden von Wien, aber nur eine vom slowenischen Maribor entfernt. Auch das ungarische Szombathely liegt nahe. In Graz promovierte der bosnische Literaturnobelpreisträger Ivo Andriać, der Kärntner Erfolgsautor Peter Handke wurde hier berühmt. Der Steirische Herbst, das 1968 gegründete Avantgardekulturfestival, hat zahlreichen Autoren aus Österreich und den Nachbarländern erste Beachtung verschafft.

Markus Jaroschka, der im Einmannbetrieb die Literaturzeitschrift Lichtungen herausgibt, wurde beauftragt, im Rahmen des Projekts „Poetik der Grenze“ die Präsentation von Literaten aus den Nachbarländern (im weiteren Sinn) zu koordinieren. Jede Nummer seiner Quartalsschrift hat er einer anderen Stadt gewidmet: Plovdiv, Berlin, Sarajevo, Tirana, Tallin. Im November sollen Autoren aus 25 Städten zu einem großen Abschlussfest nach Graz kommen.

Jaroschka ist überzeugt, dass es die Literatur war, die geholfen hat, das Trauma der Nazizeit zu überwinden. Graz trug während des NS-Regimes den zweifelhaften Ehrentitel „Stadt der Volkserhebung“. Die Universitäten als Träger deutschnationalen Gedankenguts und die Nähe der Ostgrenzen dürften dazu beigetragen haben, dass sich die Grazer Bürger besonders aktiv engagierten. Der Oberrabbiner David Herzog wurde in der Pogromnacht 1938 beinahe in der Mur ertränkt, mit Rücksicht auf sein hohes Alter aber dann „nur“ blutig geprügelt. Und die Literaten der Zeit nahmen die Förderung der Reichsschriftenkammer dankbar entgegen. Jaroschka: „Bis Ende der 50er-Jahre herrschte Kontinuität.“ Außer der noch jungen Autorin Gertrud Fussenegger hielt es keiner der steirischen Schriftsteller für notwendig, sich öffentlich von seiner Begeisterung für die Nazis zu distanzieren. Erst 1959 brachte die Gründung des Forums Stadtpark durch junge Rebellen den Aufbruch. Namen wie Peter Handke, Helmut Eisendle, Alfred Kolleritsch, Wolfgang Bauer sind eng mit Graz und dem Forum Stadtpark verknüpft.

Kurioserweise waren es dann Kulturpolitiker der konservativen ÖVP, die den Ruf der Stadt als Kulturzentrum ausbauten. Hanns Koren gründete den Steirischen Herbst, Helmut Strobl holte gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Langzeitbürgermeister Alfred Stingl den Titel der Kulturhauptstadt nach Graz. Kulturpolitik wird parteienübergreifend betrieben. Aus den Eröffnungsfeiern der Kulturhauptstadt vor zwei Wochen wurde der Wahlkampf weitgehend herausgehalten.

Nur die FPÖ spielte nicht mit, ärgert sich Detlev Eisel-Eiselsberg, ein Berater von ÖVP-Stadtrat Siegfried Nagl. So wunderten sich auswärtige Besucher über kreuz und quer geklebte Plakate mit dem Spruch: „Drogendealer in die Karlau und nicht in den Gemeindebau“. Karlau ist die Grazer Haftanstalt, wo vor allem schwere Burschen verwahrt werden. „Als ob Vorbestrafte hier bevorzugt behandelt würden“, wettert der Politiker. Die Haider-Partei macht seit langem gegen den Zuzug von Ausländern mobil. Vor allem Schwarzafrikaner gelten pauschal als Drogenkriminelle. Letztes Jahr gründete die FPÖ eine „Bürgerwehr“, die vor den Schulen und in den Parks patrouillierte. Das Unternehmen wurde eingestellt, als der wichtigste Verfechter der Tugendwächter, ein Oberst der Reserve, alkoholisiert am Steuer erwischt wurde. Ein anderer FPÖ-Mandatar ist in eine Affäre sexueller Nötigung verwickelt. Nach dem Absturz der Bundespartei im November steht wohl auch den Grazer Freiheitlichen ein Desaster bevor, wenn am Sonntag ein neuer Stadtsenat gewählt wird.

Bürgermeister Alfred Stingl (SPÖ) tritt nach achtzehn Jahren im Amt nicht mehr an. Die Wählertendenzen versprechen zwar der SPÖ leichten Zuwachs, doch ist damit zu rechnen, dass vor allem die ÖVP von der Flucht der FPÖ-Wähler profitiert und damit – so wie auf Bundesebene – vom dritten auf den ersten Platz katapultiert wird. Ihr Kandidat, der 39-jährige Stadtrat Siegfried Nagl wirkt außerdem dynamischer als der biedere Walter Ferk vom rechten Flügel der SPÖ, der mit dem Bonus des allgemein beliebten Stingl Stimmen zu binden sucht. Inhaltlich unterscheiden sich die Parteien vor allem durch ihre unterschiedliche Sicht auf die Privatisierung. Aber auch die ÖVP hat sich nicht dem wilden Neoliberalismus verschrieben. Die Wasserversorgung bleibt tabu.

Die herausragende Gestalt der Kommunalwahlen ist aber Ernest Kaltenegger, der seine Funktion als Wohnstadtrat nicht nur zu bestätigen hofft, sondern mit einem Zuwachs für seine Partei rechnet. Die KPÖ setzt in Graz seit vielen Jahren auf die Betreuung von Mietern und Sanierung von Substandardwohnungen. Deswegen hat sie vierzigmal mehr Stimmen als Mitglieder. Früher war das eher umgekehrt. 1998 zog Kaltenegger als einziger Kommunist in Österreich in einen Gemeinderat ein und ist sogar in der Stadtregierung vertreten. Es sei schon was dran, dass ihm die anderen Parteien aus Bosheit gerade das Wohnressort zugeschanzt hätten, meint er lachend. Doch die Hoffnung, dass sein Stern in der bürokratischen Verantwortung verblassen würde, hat sich nicht erfüllt. Seine Bilanz kann sich sehen lassen. Deswegen gehen nicht nur zweckoptimistische Parteimitglieder davon aus, dass die KPÖ, die kaum irgendwo sonst über 1 Prozent kommt, die FPÖ überholt und zur dritten Kraft im Stadtsenat wird. „Wort und Tat zur Deckung zu bringen und die Leute nicht aufs Jenseits vertrösten“, so lautet Kalteneggers Definition von Kommunismus. In der Triester Siedlung wird er nicht wie ein wahlwerbender Politiker begrüßt, sondern wie ein guter Freund. Frau Weidinger hat zwar noch keine Dusche. Doch dank des von der KPÖ gegründeten Rechtshilfefonds für Spekulationsopfer hat sie die zu säuftviel bezahlte Miete zurückbekommen. Vielleicht weiß sie gar nicht, dass Ernest Kaltenegger mehr als die Hälfte seines Gehalts an einen Sozialfonds für konkrete Hilfe abführt. Trotzdem versichert sie ungefragt: „Meine Stimme haben Sie auf alle Fälle.“