Voodoo Chicken

Südliche Signifikanten: Frank Castorf inszeniert im Schauspielhaus Zürich Eugene O’Neills „Trauer muss Elektra tragen“ als Horrorstück über die USA

Die Exoten bleiben Exoten, der Bürger bleibt gefangen in seinem Sein

Im Zentrum steht ein weißes Haus. Eins mit Säulen und Portal. Jetzt könnte man auch „Weißes Haus“ schreiben und jenes in Washington meinen. Und hätte damit schon das halbe Stück in der Nussschale. Denn Eugene O’Neill wollte 1931 mit „Trauer muss Elektra tragen“ nichts weniger als eine Umschrift der „Orestie“ von Aischylos auf amerikanische Verhältnisse schaffen. Eine Gründungsgeschichte. Dort Athen und der Rückgriff auf den antiken Mythos des Atridengeschlechts, hier Washington und die Rückblende auf das Ende des Sezessionskrieges von 1865. Die Verweise und Motive schießen bereits quer, bevor Regisseur Frank Castorf in Zürich Hand ans historische Melodram O’Neills legt.

Bert Neumann, Castorfs Bühnenbildner, greift beruhigend ein und baut, was er schon länger immer baut: einen Container auf Drehbühne. Nur die weiße Front mit Fahne und Terrässchen zeigt an, dass wir es mit dem Heim der amerikanischen Familie Mannon zu tun haben. Einer puritanischen Familie in Neuengland, deren Oberhaupt Ezra so eine Art logozentrischer Super-Signifikant darstellt: Vater, Richter, General. Doch die zwanghafte Ordnung ist bereits räumlich dezentriert. Hintenheraus wuchert schwüles Gewächs, ein Hühnerzaun begrenzt diesen Ort des Exotischen, und zwei Live-Hühner picken und zucken ständig über die Szenerie. Und Vinnie, gemeint ist Elektra, sagt einmal: „Willkommen in Louisiana.“ Die Gewinner des Sklavenkrieges hat es im Geiste offenbar in die Sümpfe des Südens verschlagen. Dorthin, wo Hühner nicht nur auf den Tisch, sondern auch auf den blutigen Hausaltar wandern können. Eine Ahnung von Voodoo durchzieht den puritanischen Tempel also von Anfang an.

Das hat man davon, wenn man die Frauen zu lange allein lässt. Mutter Christine (Sylvana Krappatsch als Klytaimnestras Echo) unterläuft in Abwesenheit ihres Generals die sexuelle Unterernährung mit dem verstoßenen Mannon-Bastard Brant. Der perückten Krappatsch zuzusehen, wie sie gleichzeitig medikamentös, schlagfertig und unerbittlich ihr Ebenbild und Tochter Vinnie in die Irre führt, das ist den Abend bereits wert. Wer die Extravaganza der Berliner Volksbühnen-Damen kennt und schätzt, sieht in Zürich noch etwas anderes. Es sind ein paar Zwischentöne und das Zusammenspiel mit Bibiana Beglau als Tochter Vinnie, die das Rampensäuische jenseits des Kampfsports probieren.

Das hat man davon, wenn man wegen des Gender-Troubles zu Hause in den fernen Krieg zieht, zurückkehrt und merkt, dass der Geschlechterkrieg alles andere als zu Ende ist. Bernard Schütz, der treue Castorf-Kämpe, spielt sowohl den General Mannon wie seine Kehrseite, den Bastard Brant. Das fokussiert die Kolportage. Mama liebt Bastard, Tochter liebt Papi, aber auch den Bastard, weil die ja gleich aussehen. Und Tochter erpresst Mutter, die Papi vergiftet hat. Enter Sohnemann Orin, der eigentliche Orest. Der lange Marc Hosemann verwechselt bei der Ankunft das Dorfmädchen Minnie schon mal mit seiner Schwester, und Minnie spricht Sätze, die dem traumatisierten Rächer Orin gehören. Wer das Stück nicht gut kennt, ist jetzt einigermaßen verloren und muss sich auf die Performance verlassen. Auch weil es Castorf nicht dabei belässt, die O’Neill-sche Gründungsgeschichte auf „Blut, Boden, Sex und Scheiße“ herunterzubrechen.

Hazel soll Orin heiraten, ihr Bruder Peter soll Vinnie bekommen. Doch im neuenglischen Dorf, das hier den heißen Süden träumt, herrschen komische Familienverhältnisse. Eine fünfzehnjährige Kubanerin und Laiin radebrecht Deutsch und fließend Spanisch, doch Peters rotes Haar ist dasjenige Oliver Mallisons, eines ausgefuchsten Profis. Und Minnie (Rosa Galina) scheint über eine russische Republik und einen hiesigen Nachtklub auf die Bühne gefunden haben.

Das verwirrt die Kinder mit der Zeit so sehr, dass Voodoo-Rituale und kubanische Santería-Praktiken den Hort des väterlichen Gesetzes vollständig umkrempeln. Doch nicht genug, dass Castorf über diese schauspielerischen Realien und die Wucht des Irrationalen den amerikanischen Traum hybridisiert. Nein, die Plagegeister des Orin – bei Aischylos sind das die Erynnien –, die den Mord am Nebenbuhler Brant und die Mitschuld am Tod der Mutter in Erinnerung rufen, sie übersetzt Castorf in Zitate aus Heiner Müllers „Der Auftrag“. Ach, selbst die Verweigerung Orins, das väterliche Gesetz zu reproduzieren, und seine Flucht in die Exotik müssen scheitern. Orin ist so gesehen Müllers Debuisson, der in Jamaika merkt, dass auch er nur ein bürgerlicher Revolutionär bleibt. Die Exoten bleiben Exoten, der Bürger bleibt gefangen in seinem Sein.

Diese Dramaturgie hat eine geradezu exzessive Plausibilität. Hausarbeiten werden diese Inszenierung lieben. Doch der Aufwand, um zu solch papiernen Schlüssen zu kommen, ist etwas gar hoch. An den Russen Dostojewski und Bulgakow findet Castorf entschieden mehr Fleisch. In Zürich bleibt O’Neill ein Chicken McCastorf an Heiner-Müller-Sauce. Allerdings serviert in einem Fünfsternladen.TOBI MÜLLER