Romantikerin der alten Schule

Das Heilige und die profane Politik: Mit 80 Jahren ist die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel gestorben

Es war stets eindrucksvoll, sie beim Vortrag zu erleben. Mit hinter dicken Brillengläsern halb geschlossenen Augen konnte sie, meist in ein seidenes Schultertuch gehüllt, wie eine wandelnde Enzyklopädie zentrale Namen und Daten der islamischen Geschichte rezitieren und ganze Passagen aus dem Koran. Das mochte aber auch den Eindruck festigen, Annemarie Schimmel sei nicht ganz von dieser Welt.

Und in gewisser Weise stimmte das auch, hielt sie sich doch bevorzugt in der Vergangenheit auf. Ihr Steckenpferd waren die diversen Schulen des Sufismus, und ihr Buch über „Mystische Dimensionen des Islam“ gilt als ein Standardwerk jener Disziplin, die sich bis heute Islamwissenschaft nennt. Die Wende ihres Fachs von der Philologie zur modernen Sozialwissenschaft hat sie freilich nie mit vollzogen. Annemarie Schimmel sah sich vielmehr in der Tradition eines Goethe oder eines Friedrich Rückert, die sich rein über Poesie und Philosophie einen Zugang zum Verständnis des Orients erhofften.

Romantische Islambegeisterung prägte in Deutschland noch das Fach, als Annemarie Schimmel in den Dreißigern ihr Orientalistikstudium aufnahm. Als Tochter eines Postbeamten war sie 1922 in Erfurt auf die Welt gekommen, und schon mit 15 hatte sie begonnen, die ersten arabischen Vokabeln zu memorieren. Fünf weitere orientalische Sprachen sollten folgen, und mit ihren Übersetzungen aus dem Arabischen, dem Türkischen und dem Persischen begründete sie früh ihren Ruf als Koryphäe.

Nach Kriegsende lehrte sie, frisch habilitiert, zunächst in Marburg, bevor sie 1954 als Professorin für Religionsgeschichte an die Universität Ankara berufen wurde. 1967 folgte sie dem Ruf nach Harvard, wo sie als Spezialistin für den Islam des indischen Subkontinents galt. Den Muslimen in Indien und in Pakistan galt früh schon ihre besondere Zuneigung. So übertrug sie nicht nur Pakistans Dichterphilosophen Mohammed Iqbal ins Deutsche, sondern auch die Werke weiterer Urdu-Dichter und Mystiker der Sindhi-Literatur. Deren Art, die koranische Erzählung mit lokalen Legenden ihrer Länder zu verweben, rang ihr Bewunderung ab.

Die nachkoloniale Entwicklung der islamischen Gesellschaften dagegen interessierte sie nur wenig: In ihrer Begeisterung für die geistigen Grundlagen der Religion verschloss sie lieber die Augen davor, wie sich der Islam im zwanzigsten Jahrhundert mancherorts vom religiösen Glauben und traditioneller Frömmigkeit zu einer politischen Ideologie wandelte und zu einem Instrument staatlicher Unterdrückung. In einfühlsamen Worten konnte sie zwar vom Sufi-Mystiker al-Halladsch schwärmen, ihrer historischen Lieblingsfigur, der im Bagdad des Mittelalters wegen Häresie hingerichtet wurde. Für moderne Blasphemiker hatte sie dagegen weniger Verständnis übrig: Ihre Kritik an Salman Rushdie, der mit seinem Roman „Die Satanischen Verse“ „auf eine sehr üble Art die Gefühle einer großen Menge von Gläubigen verletzt“ habe, wie sie 1995 in einem TV-Interview befand, als sie von ihrer Nominierung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erfuhr, brachte ihr einen Sturm der Entrüstung ein.

Tatsächlich war ihr die Lage der Menschenrechte im Morgenland oft nebensächlich. In ihren Reiseerzählungen aus Pakistan und Indien plaudert sie naiv darüber, wie sie sich mit Pakistans Diktator Zia ul-Haq zum Tee trifft oder im Hubschrauber über das Pamirtal entschwebt. Vom Polizeistaat kein Wort.

Trotz zahlreicher Proteste wurde ihr 1995 der Friedenspreis des Buchhandels übergeben, und Roman Herzog, damals Präsident, hielt die Laudatio. Dafür wurde sie in der Folgezeit häufiger in die Pflicht genommen, sich für bedrohte Kollegen im Nahen Osten einzusetzen. Als im Iran 1997 eine Reihe kritische Intellektuelle verhaftet wurden, wandte sie sich sogar mit einem persönlichen Brief an Staatspräsident Chatami.

Am Sonntag ist Annemarie Schimmel in Bonn gestorben. Das bestätigte am Dienstag die Universität Bonn, wo die 80-Jährige zuletzt gelehrt hatte. Sie habe „die islamische Lehre, die Sitten und die muslimischen Völker mit den Augen der Muslime gesehen“, sagte Nadeem Elyas, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, dessen Beirat Schimmel seit 1996 angehörte. Und da ist sicher etwas dran: zumindest jener Muslime, die sich zuerst der Religion verpflichtet fühlen. DANIEL BAX