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: George W. Bush feiert eine Befreiungstheologie von rechts

Testosteron im Capitol

Ein bisschen, ein ganz kleines bisschen erinnerte einen die Inszenierung von George W. Bushs lang erwarteter Rede zur Lage der Nation an die Zeiten, als die Mauer noch stand und wichtige Rede großer Parteiführer oft von Informationen aus ominösen „gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen“ vorbereitet wurden.

In einer endlosen Dauerschaltung gaben sich auf den diversen Nachrichtensendern die Experten, jene wunderbare Erfindung des Informationszeitalters, jene Frauen und Männer, die immer ein bisschen mehr wissen als man selbst, das Mikrofon in die Hand, um die Stunden vor der Rede zu verkürzen. Experten für Verteidigung, für Wirtschaft, für Steuern, für Bildung, für Gesundheit, für den Nahen Osten, für den Mittleren Osten, für Europa, für die Geschichte der „Rede zur Lage der Nation“ und schließlich Redenschreiber ehemaliger Präsidenten sowie Protokollexperten. Auf die Bedeutung der Gesten beim Sprechen wurde man vorbereitet, und die Auswahl der Gäste auf der Besuchertribüne wurde erläutert.

Dort saßen zwar keine Helden der Arbeit, dafür aber so genannte „tax-familys“, Nutznießer der letzten Steuersenkung. Auch der Beifall, der Bushs Rede alle paar Sätze unterbrach, jene stehenden Ovationen, zu denen man sich nach jedem Absatz scheinbar spontan erhob, ein wenig erinnerte auch er an den Ostblock, auch wenn es einiges lebendiger erschien als damals. Wäre durch den Obersten Sowjet ähnlich viel Testosteron geflutet wie am Dienstag durch das Capitol, würden wir heute wahrscheinlich alle im Kommunismus leben.

Denn George W. Bushs „compassionate conservativism“, jene Ideologie, mit der er vor zwei Jahren in den Wahlkampf gezogen war und die der „war on terror“ ein wenig in den Hintergrund gedrängt hatte, erlebte in der Rede zur Lage der Nation eine interessante Wiederauferstehung: als eine Art rechter Theologie der Befreiung. Zwischen seinen Versprechen, die Steuern weiter zu senken, ganz viel Geld für den Kampf gegen Aids in Afrika zur Verfügung zu stellen, Drogenabhängigen helfen zu wollen, und seiner Ankündigung, um Terroristen werde sich „gekümmert werden“, flocht Bush immer wieder Sätze ein wie diese: „Der Ruf, dem wir als gesegnetes Land folgen müssen, ist es, die Welt besser zu machen.“ – „Freie Menschen werden den Gang der Geschichte bestimmen.“ – „Wir schreiten voller Vertrauen voran, denn der Ruf der Geschichte hat das richtige Land gefunden.“ – „Wir bringen Opfer für die Freiheit von Fremden. Die Amerikaner sind ein freies Volk, das weiß, dass jeder Mensch das Recht auf Freiheit hat und Freiheit die Zukunft aller Nationen ist. Das ist nicht Amerikas Geschenk an die Welt, das ist Gottes Gabe an die Menschheit.“

Die „Freiheit“ als „Gottes Gabe an die Menschheit“ mit einer Verpflichtung für Amerika, dieses Versprechen zu verwirklichen – die Frage, was von diesen Worten übrig bleibt, wenn man das Pathos abzieht, stellte sich leider keiner der zahllosen Experten, die sich nach Ende der Rede an ihre Interpretation machten. Sind es nur die Ölinteressen? Oder stehen etwa bestimmte Begriffe, auf die die Linke immer ein Abonnement zu haben glaubte, vor einer feindlichen Übernahme?

TOBIAS RAPP