Flucht durch den Tunnelblick

Eine Jugend in Bagdad: In ihrem Debütroman erinnert Mona Yahia auch an die Geschichte der jüdischen Gemeinde des Iraks. Mit „Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom“ zeichnet die in Köln lebende Autorin das farbige Porträt einer vergangenen Zeit

von DANIEL BAX

Es war bei der Lektüre eines Buchs von Paul Bowles, dem Beat-Schriftsteller, der sich auf Lebenszeit im marokkanischen Tanger niederließ, als Mona Yahia über das arabische Wörtchen für Indigo stolperte. Unvermittelt überkamen sie Erinnerungen an ihre eigene Kindheit, als ihr die arabische Sprache einmal geläufig gewesen war. Und so entschloss sie sich, diese Erinnerungen festzuhalten.

„Am Anfang wollte ich eine Privatgeschichte schreiben. Aber dann habe ich gemerkt: Meine Kindheit ist nicht privat“, sagt die 48-jährige Autorin, die seit mehr als fünfzehn Jahren in Köln lebt; der jüngsten Etappe einer wechselvollen Biografie. Geboren in Bagdad, flüchtete Mona Yahia 1971 noch als Teenager mit ihrer Familie aus dem Irak nach Israel, wo sie zunächst studierte und als Psychologin arbeitete. 1985 verschlug es sie dann nach Deutschland, wo sie, nach einem weiteren Studium an der Kunsthochschule Kassel, mehr oder weniger zufällig hängen blieb. Für ihren Debütroman, den sie auf Englisch geschrieben hat – in Äquidistanz zu den beiden wichtigsten Sprachen ihrer früheren Leben, dem Arabischen und dem Hebräischen –, ist sie zumindest in Gedanken noch einmal an die Stätte ihrer Jugend zurückgekehrt. Und obwohl sie ihre Erfahrungen fiktionalisiert hat, bilden sie doch unbestreitbar Teil einer kollektiven Erinnerung: jener der einstigen jüdischen Minderheit im Irak.

Es ist eine fast vergessene Geschichte, oder jedenfalls eine, die längst von gewichtigeren geschichtlichen Ereignissen an den Rand gedrängt worden ist. Aber in den Zwanzigerjahren stellte die jüdische Gemeinde noch ein gutes Viertel der Bevölkerung Bagdads, und für kurze Zeit kamen ihre Mitglieder in den frühen Jahren der Republik auch in den Genuss formaler Gleichberechtigung. Doch mit dem arabischen Nationalismus und der Staatsgründung Israels gerieten die Juden auch im Irak zunehmend unter Druck, und so kam es in den Fünfzigerjahren zum Massenexodus. Während die meisten das Land verließen, bewahrte sich eine kleine Minderheit noch die Hoffnung auf bessere Zeiten. Doch diese währte nur bis zum Sechstagekrieg, auf dessen demütigendes Ende in mehreren arabischen Ländern mit Übergriffen gegen die verbliebenen jüdischen Restgemeinden reagiert wurde. Besonders drastisch verhielt sich das noch junge Baath-Regime im Irak: Es ließ ein gutes dutzend Juden des Landes in einem Schauprozess wegen angeblicher „zionistischer Umtriebe“ anklagen und öffentlich hinrichten.

Dieser Prozess bildet auch in Mona Yahias Roman „Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom“ einen Wendepunkt, bietet er doch letztendlich den Auslöser für die Flucht seiner Hauptfiguren aus dem Irak. Beschrieben aus der Sicht des Mädchens Lina, das aufgrund der politischen Umstände aus einer sorglosen Kindheit gerissen wird und zugleich die Wirrungen der Pubertät durchlebt, entfaltet der Roman das anschauliche Bild eines Mikrokosmos, in dem sich die Verwerfungen der gesamten Region spiegeln. Es ist eine kleine Welt, in der sich Lina zwischen Elternhaus, der jüdischen Schule und den Ufern des Tigris bewegt, bevölkert von Mitschülern, Lehrern und befreundeten Nachbarn. Doch der Tunnelblick ist symptomatisch, entwickelt sich die Außenwelt doch zunehmend zur Bedrohung.

Mit den Repressalien, so mit der Inhaftierung ihres älteren Bruders Shuli, weicht Linas Identifikation mit ihrem Geburtsland dem Bewusstsein, nicht dazuzugehören. Aus ihrem Arabisch-Lesebuch tilgt sie bald auf allen Seiten das Wort „Heimat“, ganz so, wie das irakische Regime den Namen und das Staatswappen Israels aus allen Atlanten entfernt hat; und schließlich versucht sie gar aktiv, das Arabische zu verlernen. „Ich wollte alles vergessen“, sagt auch Mona Yahia über ihre ersten Jahre in Israel. „Deswegen ist das Buch auch erst viel später geschrieben worden.“

Nicht nur als Dokument, auch als literarisches Debüt ist ihr Roman bemerkenswert, selbst wenn manche Schwäche nicht zu übersehen ist. So hat Mona Yahia ihre Kindheitsgeschichte akribisch um die historischen Fakten ergänzt. Oft weiß man deshalb nicht, wer gerade spricht: Die minderjährige Ich-Erzählerin oder die gereifte Autorin, die aus der Distanz um die größeren Zusammenhänge weiß. Die schiere Fülle und der Detailreichtum der anekdotischen Betrachtungen aber verdichten den Roman zum farbigen Zeitporträt und lassen selbst Randfiguren plastisch werden. Er illustriert exemplarisch die Wechselfälle einer Minderheit in einer Region, die einst ein zusammenhängender Kulturraum war, bevor sie von Grenzen zerschnitten wurde – wie sich noch an der Vita des Vaters zeigt, der im türkischen Urfa geboren wurde, bevor er nach Bagdad übersiedelte. Er wirft auch ein Licht auf die häufigen Machtwechsel und die politische Instabilität im Irak, welche die Ära vor Saddam Hussein kennzeichneten, und die Instrumentalisierung der Palästinafrage zu innenpolitischen Zwecken, die unter fast allen Regimes eine Konstante bildete.

Mit dem Irak von heute, der „Republik der Angst“ unter Saddam Hussein, wie sie der Politologe Kanan Makiya nennt, hat das Buch allerdings nur wenig zu tun: Er ist Mona Yahia auch völlig fremd geworden. Von der Übersetzung ihres Romans ins Hebräische erhofft sie sich, dass er, wie die Bücher von Sami Michael oder Eli Amir, in Israel an die Geschichte der orientalischen Juden erinnert. Dass er eines Tages auch ins Arabische übersetzt werden und sie zu einer Lesung nach Bagdad reisen könnte, um diese Vergangenheit anzusprechen – das allerdings ist eine Utopie, die wohl zu unvorstellbar klingt, um wahr zu werden.