„Kein Fax aus Hollywood“

Ein Gespräch mit Berlinale-Chef Dieter Kosslick über deutsche Filme und amerikanischen Mainstream auf der Berlinale, die Schwierigkeiten mit der Auswahl und die Konkurrenz zu den anderen Filmfesten

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Kosslick, die letzte Berlinale war Ihre erste. Aus der Rückschau: Was war 2002 neu?

Dieter Kosslick: Ein gewisses Maß an Heiterkeit am roten Teppich. Trotz aller Seriosität der Themen, die im Wettbewerb behandelt wurden, herrschte eine gute Stimmung. Man darf nicht vergessen: Es war ja das Festival nach dem 11. 9. Aber die Leute waren gut drauf. Natürlich ist auch objektiv etwas passiert. Wir haben uns um die deutschen Filme gekümmert. Vier deutsche Filme liefen im Wettbewerb, dieses Jahr sind es drei, und wir haben die „Perspektive Deutsches Kino“ gegründet, die uns viele junge Leute ins Kino gebracht hat.

Ist Ihnen das Attribut „deutsch“ Selbstzweck?

Dann würde ich dieses Jahr fünf Filme im Wettbewerb zeigen. Das „deutsch“ ist nicht Selbstzweck, aber umgekehrt hat es genauso wenig Sinn. Wir können hier nicht eines der größten Festivals der Welt veranstalten, und dann wird der deutsche Film nicht prominent promotet. Ich sage absichtlich nicht „gezeigt“, sondern „promotet“, weil der deutsche Film auch vorher gezeigt wurde. Der Unterschied lag im Marketing.

Außerdem komme ich von der Filmförderung. Als 54-jähriger Mann habe ich gelernt, dass man seine ehemaligen Geliebten nicht verstößt, sondern ein gutes Verhältnis zu ihnen pflegt. Das änderte sich auch nicht, als ich nach Berlin kam. Erst recht ziehe ich den Vorhang auf und sage: „Schaut her!“ Und hey, wo sind wir hier eigentlich? Cannes hebt doch auch 36 französische Filme ins Programm.

Aber ist das Entscheidende die Herkunft? Oder dass es einem Film gelingt, ein Lebensgefühl, einen charakteristischen Zustand oder eine bestimmte visuelle Erscheinungsweise einzufangen? Ulrich Köhlers „Bungalow“ war dafür im letzten Jahr ein schönes Beispiel: kein durchweg gelungener Film, aber doch ein schöner Blick auf hessische Einfamilienhäuser.

Dass dieser Film in der Perspektive lief, hatte sicherlich damit zu tun, dass Alfred Holighaus aus Hessen kommt. Hätte es die Perspektive schon vor ein paar Jahren gegeben und wäre ich ihr Leiter gewesen, hätte ich „Die Blume der Hausfrau“ gezeigt. Es gibt keinen schöneren schwäbischen Film über Vorwerk-Staubsauger als diesen. Es geht um eine nonchalante Betrachtung der Welt. Die Dimension der Geschichte wird einem erst allmählich klar. Wir haben dies übrigens auch beim Wettbewerb festgestellt, bei Filmen wie „Kleine Missgeschicke“ und „Halbe Treppe“. Alltagsgeschichte wird so lakonisch erzählt, dass man den Eindruck gewinnt: Um Gottes Willen, ich bin in eine Dokusoap geraten. Das ist gut so. Denn die Leute sehen, dass es nicht nur um schnelle Autos und schöne Frauen geht, sondern dass Film etwas mit ihrer gesellschaftlichen Realität zu tun hat.

Trotzdem nervt es, wenn ein Filmfestival als nationale Leistungsschau behandelt wird. Die Agenturen melden als Erstes: drei deutsche Filme im Wettbewerb, als sei das schon ein Kriterium.

Die Frage ist, warum es so gemacht wird. Die Meldung selbst ist schon wieder Marketing. Normalerweise wären drei deutsche Filme im Wettbewerb keine Meldung. Nach all den Jahren der Dürre aber sind sie es. Wenn Sie es einmal nicht mehr lesen, wissen Sie, dass sich der Prozess normalisiert hat.

Zur Berlinale finden experimentelle, kleine, dokumentarische Filme ein Publikum. Sonst sieht das nicht so gut aus, zumal die Infrastruktur nicht eben die beste ist – man denke nur an die defizitäre Kinolandschaft in einer Großstadt wie Köln. Braucht es so etwas wie eine Erziehung zum Film? In Cannes sitzen 16 Jahre alte Schüler in den Vorführungen der Semaine de la Critique und schreiben probehalber Rezensionen.

Ich habe sogar zwei von den Cinephilen kennen gelernt letztes Jahr. Ich saß mit ihnen die halbe Nacht im Hotel Majestic in Cannes und habe Cocktails erstanden, die so teuer waren wie ihre Fahrkarten. Einen Club cinephiler Schüler: So etwas haben wir leider nicht, und vielleicht sollte man auf dem Talent-Campus darüber philosophieren. Denn ich finde, dass das Kino als Kunst einerseits und die Medien als kommerzielle Vertreiber gesellschaftlicher Philosophien andererseits Themen sind, die man an den Schulen unterrichten müsste. Es gibt in Nordrhein-Westfalen einen Versuch in diese Richtung, und bei der europäischen Filmakademie in Rom wurde über Erziehungssysteme, Schule und Film gesprochen. Zwei Dinge ließen sich ausgezeichnet kombinieren: die Lust an einem Kunstwerk, dem Film, zu wecken und zugleich die Reflexion über ein Medium zu fördern, das gigantisch fies ist, weil es mit den Mitteln der Unterhaltung gefährliche Inhalte transportiert. Inhalte, die ohne diese Reflexion gar nicht durchschaut werden. Kinder gehen jeden Tag mit diesen Medien um. Wenn wir als Festival – zum Beispiel mit dem Kinderfilmfest – darauf hinwirken können, dass die Reflexion angekurbelt wird, dass wir das Medium selbst reflektieren, dann ist das gut und könnte unser Beitrag zu einer audiovisuellen Pädagogik sein, die an jede Schule gehört.

Ist der Talent-Campus dieses Jahr die wichtigste Neuerung?

Das ist eine riesig große Sache: 500 junge Filmemacher aus der ganzen Welt, ausgesucht aus über 2.000 Bewerbern. Wir wollen versuchen, den Nachwuchs mit den erfahrenen Hasen zusammenzubringen. Mich erinnert das daran, wie die Independent-Bewegung 1979 das Hamburger Filmbüro und die erste selbst verwaltete Filmförderung gegründet hat. Es gab damals ein Hamburger Manifest, darin hieß es: „Die Jungen sollen sich mit den alten Hasen zusammen auf die Socken machen.“ Hark Bohm, Alexander Kluge, Reinhard Hauff und Hans Werner Geißendörfer haben das damals geschrieben. Diesen Geist will ich in den Talent-Campus bringen.

Der Campus bindet doch sicher einige Mittel. Wie steht es um den Etat der Berlinale?

Im Moment haben wir einen ausreichend großen Etat.

Das heißt?

10 Millionen Euro. Davon kommen 6,5 Millionen von der Kulturstaatsministerin und 3,5 Millionen von den Sponsoren und den eigenen Einnahmen. Dank großzügiger Unterstützung – unter anderem vom Filmboard Berlin-Brandenburg, vom UK Film Council, von der Filmförderanstalt und vom Auswärtigen Amt – konnten wir den Campus aus der Taufe heben, ohne dass die Berlinale darunter zusammengebrochen wäre. Das sah zwischenzeitlich ein bisschen anders aus. Aber heute kann ich sagen: Wir machen eine qualitativ hoch stehende Berlinale, wir haben dafür das Geld und sind im Budget. Und wir haben nicht irgendwo Geld abgegriffen, das kleinen Medieninitiativen in Berlin die Etats entziehen würde.

Der Eröffnungsfilm, das Musical „Chicago“, wurde kürzlich mit mehreren Golden Globes ausgezeichnet. Der Abschlussfilm, Scorseses „Gangs of New York“, ist auch hier schon extensiv besprochen worden. Bekommt man US-amerikanischen Mainstream nur unter dieser Prämisse?

Ich finde es sehr schön, dass, vier Monate nachdem wir die Filme ausgesucht haben, der Golden Globe nun auch der Meinung ist: Dies sind die besten und die intelligentesten Mainstreamfilme, die Amerika im Moment zu bieten hat. Herzlichen Glückwunsch, Golden Globe! Es war auch letztes Jahr so, dass wir im Sommer und im Herbst Filme ausgesucht haben, die dann plötzlich für elf Oscars nominiert waren. Wenn ich mir die Filme anschließend ausgesucht hätte, dann hätte ich gesagt: Na ja, ein bisschen opportunistisch ist das schon.

Einige der Wettbewerbsfilme kommen unmittelbar nach der oder noch während der Berlinale in die Kinos.

Zum Beispiel der deutsche Film „Good bye, Lenin“. Wir müssen gar keine amerikanischen Beispiele heranziehen. Die Berlinale ist für amerikanische Filme eine großartige Marketingplattform, und daran ist nichts Unrechtes. Wenn ich Filmmanager wäre, würde ich das Marketingpotenzial einer solchen Riesenveranstaltung – mit 3.500 Journalisten, die in 82 Ländern Öffentlichkeit schaffen – auch ausnutzen und meinen Film möglichst schnell ins Kino bringen. Außerdem wählen wir die Filme trotzdem noch aus. Wir kriegen kein Fax aus Hollywood, in dem drinsteht, was wir zu zeigen haben.

Gehen die Filme gern in den Wettbewerb?

Ja, wir haben dieses Problem nicht, das ich von anderen Festivals kenne, wo viele außer Konkurrenz laufen wollen. Wir haben weniger Außer-Konkurrenz- Filme als im vergangenen Jahr. Trotz des letztjährigen Ergebnisses, das ganz anders war, als sich alle Beteiligten dachten, ist man good sports und im Wettbewerb dabei.

Es gibt inzwischen vier große europäische Festivals. Woher nimmt man zwanzig bemerkenswerte Filme vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz?

Das ist die Jagd nach dem grünen Diamanten. Es gibt weder Absprachen noch ein Filmfestivalkartell, sondern gesunde Konkurrenz zwischen den Veranstaltern. Die einzelnen Festivals haben zudem Profile, die den Verleihern bekannt sind. Und was nützt mir der neue Film von Wong Kar-wai, wenn er noch nicht fertig ist? Dann geht der eben nach Cannes. Man kann natürlich darauf hinwirken – und genau das passiert jetzt in der deutschen Filmszene –, dass Filme zur Berlinale fertig werden. Und wenn sie uns gefallen, programmieren wir sie.

Streben Sie das auch über die deutsche Filmszene hinaus an? Schließlich könnte auch Wong Kar-wai seinen neuen Film so fertig stellen, dass er auf der Berlinale laufen könnte.

Wir haben gerade mit ihm in Hongkong gesprochen. Diesmal wird er wieder erst für Cannes fertig. Da geht es ihm genauso wie Lars von Trier. Wir können da nichts machen. Und auch Ken Loach – ich glaube, nur durch eine Flugzeugentführung könnte ich ihn nach Berlin bringen, obwohl ich nahezu alle seiner Filme mitfinanziert habe, als ich noch in Nordrhein-Westfalen war. Wir haben trotzdem ein gutes Verhältnis. Aber das mit den Filmemachern und den Filmfestivals ist ein bisschen wie eine alte Beziehung. Man geht dahin, wo man alles kennt. Ein Partnerwechsel ist schwierig.