Nun hab ich Zeit

Der Tod als schöne Kunst: Die Bräuche ändern sich, Pietäten und Friedhofsverwaltungen passen sich einem neuen Bedürfnis nach modernen Trauerritualen an. Der Friedhof kann zur Kunstausstellung werden. Die Zahl der anonymen und der Urnenbestattungen steigt, die Friedhofseinnahmen sinken

von HEIDE PLATEN

Ist doch wahr: Gestorben zu sein kann so schön sein, die Beerdigung ein Event, das Grab ein Kunstwerk. Noch wahrer ist: Sterberituale feiern Wiederauferstehung. Triste Trauerhallen, hastig abgehaspelte Standardpredigten, liebloser Nachruf und Plastikdekor – das hat mancher Tote, auch wenn es ihm eigentlich egal sein kann, wirklich nicht verdient. Er möchte es besser haben.

Er kann. Im Habichtswald bei Kassel haben Künstler ihre Nekropole erstritten, last exit zwischen Bäumen unter dem eigenen Kunstwerk. Auch im südhessischen Gernsheim hatte ein Steinmetz das enge Korsett der Friedhofsverordnungen der Gemeinden und das strenge Einerlei bundesdeutscher Grabgestaltung satt. Zusammen mit dem Schweizer Grafiker Roger Pfund schrieb der Meister Hermann Freymandl Prominente an und bat sie, sich Gedanken über ihre eigene Grabinschrift zu machen.

Nun ist es ja eine Binsenwahrheit, dass, wer ganz im Leben steht, sehr genau weiß, dass nach seinem Tod und aus Anlass seines Todes sowieso alles verpfuscht werden wird. Warum also nicht für das gute Gelingen posthumer Ehrung selber sorgen? „Nun hab ich Zeit …“ ließ sich ein verstorbener Künstler lakonisch in Marmor und Granit meißeln. Das jedenfalls erspart anderen Unsinn und wurde mit einem Designerpreis ausgezeichnet.

Parallel zu diesem Trend der Wiederbelebung würdiger Rituale aber wird gespart. Es wächst der Wunsch der Menschen, nach dem Ableben nicht lästig zu fallen und ohne Brimborium entsorgt zu werden. Die christliche Erdbestattung, amtsdeutsch die „Komplettvergrabung“, kommt aus der Mode. Sowohl der Anteil der anonymen wie der der Urnenbestattungen wächst stetig.

Wer sich einäschern lässt, spart Platz und kostet weniger. In Baden-Württemberg kündigten die Städte Freiburg, Konstanz und Ulm voriges Jahr Preiserhöhungen für den bisher rund tausend Euro billigeren letzten Gang in die Urne an. Das soll dem feuerbestattungsbedingten kostenträchtigen Leerstand der Immobilie Friedhof abhelfen. Auch Krematorien machen sich mittlerweile Konkurrenz. Bestatter gehen für ihre Kunden auf Landflucht. Sie weichen auf das preiswertere Umland aus.

Das wachsende Umweltbewusstsein macht vor dem Friedhof nicht Halt. Moderne Filteranlagen für Krematorien sind teuer. In letzter ökologischer Konsequenz hatten deshalb Vertreter der Berliner Alternativen Liste in Berlin schon vor über zwanzig Jahren die wirtschaftliche Nutzung der Abwärme von Krematorien gefordert.

Die Menschenheizung mag bestenfalls eine politische Pietätlosigkeit gewesen sein. Aber auch in Schweden wird nichts verschwendet. Eine Biologin ließ sich ihre Methode als Beitrag zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, Erde zu Erde, patentieren. Der Tote wird in flüssigem Stickstoff gefriergetrocknet, dann mit Ultraschallvibrationen zerbröselt. Das spare rund fünfzig Liter des zum Verbrennen erforderlichen Öls, setze keine Schadstoffe frei und beschleunige den biologischen Abbau. Die Hand voll Zerfallsprodukt passt in einen Minisarg, der umgehend zu Humus wird. Ein Pilotprojekt ist geplant.

Schweigen wir von den teuren Luxuseingefrorenen, die sich mittels Energieverschwendung eine Auferstehung kaufen wollten und noch immer in ihren Permafrosttanks ausharren.

Der Gottesacker ist ein weites Feld. Naturschützer loben ihn als Biotop in der Metropole. Mensch und Tier finden ihren Platz. Egoisten und Romantiker bevorzugen nach dem Verbrennen die rückstandsfreie Seebestattung. Sie verfügen, dass ihre Asche auf dem Meer verstreut werde. Kein Ort des Erinnerns, keine Grabpflege, keine Sentimentalität, keine nervige Verwandtschaft auch noch am Grab, endlose Reise des Staubes in Wind und Meer.

Vorreiter stilsicheren Abgangs ist der Schweizer Ueli Sauter, der anonyme Bestattungen in einem Wäldchen anbietet. Mensch kauft für 1.750 Euro einen Baum seiner Wahl, den er mit seiner Asche nähren möchte. Diese gelangt durch eine Röhre an die Wurzeln (siehe taz.mag vom 2. März 2002). Der Münsteraner Dogmatikprofessor Thomas Pröpper kritisiert, solche Bräuche liefen nicht nur der Humanität, sondern auch „der Sinnausrichtung des christlichen Glaubens“ zuwider.

Das ganze Gegenteil der Anonymität ist die weltweit abrufbare Trauerhalle im Internet. Die „Hall of Memory“ zählt monatlich an die hunderttausend Zugriffe. Die Bräuche ändern sich zwar, aber der alte Dorffriedhof ist keinesfalls grenzenlos geworden. In Wien, Stuttgart und Frankfurt am Main fühlten sich Anwohner gleichermaßen von der Art afrikanischer und lateinamerikanischer Neubürger und alteingesessener Roma gestört, ihre Toten ins Jenseits zu feiern. Biertische, spielende Kinder zwischen den Gräbern, laute Musik zum Totentanz störten die ererbte Friedhofsruhe.

Wer im Tode weniger Gesellschaft, aber nicht allein sein will und dem Familiengrab nichts abgewinnen kann, hat zukünftig in Baden-Württemberg die Chance, eine ebenfalls neue Bestattungsforn zu wählen: das Urnengemeinschaftsgrab. Auf fünf Quadratmetern bis zu zwölf Eingeäscherte: Das reicht selbst für Wohngemeinschaften.

Die Behörden passen sich nach und nach den neuen Sitten an. Wer der geizigen Verwandtschaft nicht traut, sich als letzte Ruhestätte ein sicheres, aber eben auch teures Plätzchen Erde wünscht, kann sich sein Grab in Heidelberg neuerdings selbst aussuchen, es im Vorverkauf erwerben und seinen Grabstein dort aufstellen. Damit will der Gemeinderat dem urnenmäßig bedingten Leerstand entgegenwirken. Einzige Bedingung: Das eigene Grab muss bis zum Tode auch selbst gepflegt werden.

Auch die Grabstein- und Schmuckverordnungen haben sich gewandelt. Seit in Frankfurt am Main Plastikdekorationen verboten sind, dominiert als Gesteck die getrockenete Natur – wenn auch nicht durchgängig. Moderner wird es allemal: Windrädchen drehen sich vielerorts auf Kindergräbern, gar Spielzeug und Weihnachtsschmuck zeugen von Nähe über den Tod hinaus. Der Grabstein, nach 1945 auf industriell geschnittene Vierkantigkeit reduziert, bekommt wieder Formen. Steinmetze werden zu Bildhauern. In Freiburg stellten sie auf freien Gräbern 45 ihrer Kreationen aus. Das Modell „Metamorphose“, eine runde Sandsteinkugel, die sich in der Mitte teilt wie ein Granatapfel, gibt unter der Schale ein sanftes Frauengesicht frei.

Auch andere Naturmaterialien sind erlaubt, bunt bemalte Baumwurzeln und Filzkugeln etwa. Ein Totenbriefkasten leitet letzte Botschaften als Rohrpost ins Grab. Ein Künstler setzt „Handmale“, den Abdruck der Hand des künftigen Toten in Bronze gegossen. Bei der Fachmesse „Stone+tec“ in Nürnberg präsentierte der Designer Luigi Colani, der auch aerodynamische Särge entwirft, ein eigenes Grabmal: ein gebrochenes Herz in einer steinernen Schale.

Eine Ludwigsburger Bestatterin dekorierte ihr Schaufenster kürzlich mit einem knallroten Sarg. Das Modell blieb ein Ladenhüter. Niemand, sagt sie, habe es gewagt, „die Verwandten zu schocken“. In Berlin bietet eine Designerin Särge mit Motiven auf Bestellung an, Palmenstrand, Sonnenschein und Regenbogen. Der Tod scheint licht.

Nun sollte man nicht denken, mit dem langsamen Absterben des Jenseitsglaubens habe der Tod im abendländischen Kulturkreis seinen Schrecken, seine dunkle Seite und seine Magie verloren. Wer in seiner Kindheit um Mitternacht über die Friedhofsmauer kletterte, hatte eine Mutprobe bestanden. Vor Monaten malten Friedhofsschänder nach einer Serie von Zerstörungen an eine Wand in Obertürkheim „I’m the freedom fighter for the darkness“. Das ist nicht ganz so kaputt wie die Obsession eines Frankfurter Arbeitslosen, der jahrelang Urnen, Grabplatten und Leichenteile ausbuddelte und in seinem Keller lagerte – bis der Geruch den Hausmeister stutzig machte.

Freitode häufen sich am Jahresende, im Februar wird in Deutschland am meisten gestorben. Neunzig Prozent der Deutschen sterben nicht zu Hause, sondern in Heimen oder Krankenhäusern. Zur Beerdigung aber gehört die Trauer, die der Verstorbene wohl oder übel den Hinterbliebenen überlassen muss. Auch Trauer müsse, sagen Experten, in der heutigen Konsumgesellschaft neu gelernt werden.

Mittlerweile helfen dabei nicht mehr Familie, Nachbarn, der Dorfpfarrer, die wussten, was zu tun ist, und die Rituale kannten. Stattdessen entstehen immer mehr Selbsthilfegruppen, Psychologenrunden und kommerzielle Trauerzentren, für Erwachsene wie für Kinder. In Mainz eröffneten zwei Sozialpädagoginnen ein Beerdigungsinstitut mit individuellem Service. Sie bieten neben den üblichen Handreichungen vor allem Zeit an, für Gespräche, für ein Picknick mit Pizza und Wein am offenen Sarg als moderner Art der Totenwache. Schüler bemalen den Sarg ihres Freundes. Ausstellungen und Vorträge zum Thema Tod sind Publikumsrenner.

Getrauert wird mittlerweile nicht nur am Grab, sondern auch dort, wo die Seele, wohin auch immer, fuhr, an genau der Stelle, an der gestorben wurde. Blumenberge, Plüschtiere, Briefe und Kerzen markieren den Unfallort von Verkehrsopfern, die Absturzstelle im Gebirge, den Schauplatz eines Mords. Das Verlangen nach würdigem Tod und ebensolchem Gedenken scheint groß.

Bestattungen sind wahrlich keine neue Geschäftsidee. Gestorben wird immer. Aber der krisensichere Markt ist hart umkämpft. Etliche Pietäten preisen sich inzwischen mit Plakaten und Fernsehspots an. Und wo Konkurrenz ist, ist auch Korruption. Ein Berliner Unternehmer schaffte es 1995, beides gedeihlich zu verbinden. Er schmierte im großen Stil Amtsträger an der Spree mit Geschenken und Reisen, damit sie ihn bei Todesfällen vor der Konkurrenz benachrichtigten.

Allerdings konnte der Mann einem Krematoriumsbesitzer in der Stadt Noble im US-Staat Georgia nicht das Wasser reichen. Der hatte das vom Vater ererbte Unternehmen lukrativer gemacht, indem er sich die Einäscherungen zwar bezahlen ließ, sie aber nicht durchführte. Er verscharrte die Leichen in der Umgebung und händigte den Angehörigen Urnen mit Zementstaub aus.

HEIDE PLATEN, Jahrgang 1946, Altsponti und taz-Urgestein, lebt in Frankfurt am Main