„Für mich zählt nur das Konto“

„Mir hamse ja die Rente halbiert.“– „Was?“

aus Berlin JAN ROSENKRANZ

Sie hat gern gestrickt – früher. Als man die Wolle noch bezahlen konnte. Frau Schmidt, so könnte die kleine alte Dame im grünen Pullover heißen, Frau Schmidt kauft keine Wolle mehr.

„Mir hamse ja die Rente halbiert“, sagt sie.

„Was?“, fragen die Senioren.

„Na, klar, uns allen hamse die Rente halbiert!“, meckert sie.

„Ach, Sie meinen den Euro“, sagt eine feingliedrige Dame.

Andere rollen mit den Augen.

„Ich warte immer noch, det se die Preise auch halbieren – ist ja alles zu teuer“, sagt Frau Schmidt.

„Teuro!“, stöhnt die Runde.

Berlin im Januar, touristisches Epizentrum, Seniorenresidenz „Vis à vis der Hackeschen Höfe“. Kaffenachmittag im Dachgeschoss. Ein gutes Dutzend Senioren rührt klingelnd im Kaffee und sinniert über die Rente. Darüber, dass jetzt endlich mal eine Anpassung fällig wäre, dass sie ihr Leben lang brav eingezahlt haben und dass man ihnen zum Dank dafür schon wieder in die Tasche greifen will. Sie sind zwischen 65 und 90, fühlen sich zu alt, um noch allein zu wohnen, und zu jung fürs Altersheim.

„Ein bunt gewürfelter Haufen“, sagt Karl Sonnabend, 74. Gemeinsam mit seiner drei Jahre jüngeren Frau Marlies bewohnt er für insgesamt 1.600 Euro monatlich ein kleines Zwei-Zimmer-Apartment mit Bad und Küchenzeile und Pflege nach Maß. Die Seniorenresidenz ist kein Luxusdampfer, aber auch kein Hort der Altersarmut. Hier wohnen auch jene, die wohl gemeint sind, wenn von Verzicht die Rede ist und von mehr Mut zur Veränderung. Ehemalige Betriebsdirektoren und Konzertpianistinnen neben Hausfrauen und Angestellten. Ost und West unter einem Dach. Sie haben nicht viel gemein. Eigentlich nur das Alter.

Doch in einem sind sie sich trotzdem alle einig: An dieser Kaffeetafel wäre niemand dazu bereit, freiwillig auf einen Teil der Rente zu verzichten, um jüngere Beitragszahler zu entlasten. Sie interessiert nicht, dass schon heute drei Beitragszahler einen Rentner ernähren, in 20 Jahren nur noch zwei das schaffen müssen und nur wenig später jeder dritte Deutsche über 60 Jahre alt sein wird. Sie interessiert auch nicht, was diese Rürup-Kommission treibt. Was die Senioren wissen wollen: Wann gibt es mehr Rente und wie viel?

„Meinetwegen können die Politiker das ganze Rentensystem umkrempeln“, sagt Frau Schmidt. „Interessiert mich allet nich. Bei mir zählt nur, wat auf dem Konto is. Und det is nich ville.“ – „Sie haben doch die meiste Zeit Ihres Lebens gar nicht gearbeitet“, sagt Herr Sonnabend.

Frau Schmidt guckt beleidigt.

„Es ist doch so“, hebt Herr Sonnabend an und erklärt, dass im Westen meist der Mann allein für Arbeit zuständig gewesen sei.

„Meine Frau aber hat immer gearbeitet“, sagt Herr Sonnabend. Er deutet auf eine kleine Frau, die gebeugt neben ihm im Rollstuhl sitzt und lächelt. „Wir waren beide berufstätig, sonst könnten wir uns das hier nicht leisten, bei der kleinen Rente.“

Karl Sonnabend hat im DDR-Finanzministerium gearbeitet, hat früh angefangen „auf der untersten Sprosse“. Dafür ist seine Rente jetzt „wegen Staatsnähe gedeckelt“. Die Rente seiner Frau Marlies war das auch einmal. Sie war Chefsekretärin beim DDR-Satiremagazin Eulenspiegel. Das erschien im Berliner Verlag, der wiederum zu einem SED-Kombinat gehörte. Somit war Frau Sonnabend Mitarbeiterin der SED, mithin staatsnah. „Dabei war ich vor der Wende in der CDU“, sagt sie und kichert.

„In der DDR hatten wir nun mal alle niedrige Gehälter. Klar, dass wir jetzt auch wenig Rente bekommen“, wirft eine resolute Dame ein. Sie trägt eine große Brille und kann die Aufregung nicht so ganz verstehen.

„Man darf die ‚zweite Lohntüte‘ ja nicht vergessen“, sagt Herr Sonnabend, „die subventionierten Preise, die niedrigen Mieten, das zählte doch mit zum Gehalt. Das hat man nur nicht ausbezahlt bekommen.“ Das rächt sich jetzt bei der Rentenberechnung.

„Pleite gegangen seid ihr mit eurer DDR“, sagt eine Oma im weißen Häkelpulli.

„54 Mark Miete habe ich gezahlt“, grummelt ein alter Mann.

„Dafür war bei uns der Kaffee billiger“, giftet die Häkelpulli-Oma zurück.

„Bei mir zählt nur, wat auf dem Konto is“, wettert Frau Schmidt. Die Seniorenbetreuerin Anfang 30 schleicht um die Tafel, schenkt Kaffee nach und süßen Saft verdünnt mit Wasser.

„Wir, die wir hier sitzen, haben mit 14, 15 oder 16 alle schon gearbeitet“, sagt die Dame mit bunter Kette, die am Kopfende sitzt. Heute würden die jungen Leute mit 27 Jahren noch immer in der Ausbildung stecken. In dem Alter hätten sie schon ordentlich in die Rentenkasse eingezahlt.

Murmeln in der Runde.

Sie hat vier Kinder zur Welt gebracht und war trotzdem zwölf Wochen nach der Geburt wieder am Arbeitsplatz. So sei das gewesen – damals. „Kein Wunder also, dass das System nicht mehr funktioniert – heute“, sagt sie.

Einige nicken, andere grummeln und manche schweigen – gelangweilt oder schüchtern, während die Meinungen über den Fertigkuchen hinweg prasseln. Dass Rente mit 70 Blödsinn sei, wenn schon die über 50-Jährigen niemand mehr haben will. Dass sie selbst gern länger arbeiten gegangen wären, wenn man sie denn gelassen hätte. Dass es nach der Lebensarbeitszeit gehen muss und nicht nur nach dem Alter. Dass man nicht immer bei den Schwachen sparen soll und dass die Wolle wieder billiger werden muss.

„Wir werden ja auch immer mehr“, murmelt jemand. Es klingt wie eine Drohnung. Senioren werden auch politisch an Einfluss gewinnen. Schon jetzt ist jeder zweite Wähler über 50.

Ein kleiner, hutzeliger Mann, Haare in die Stirn gekämmt wie Cäsar, blickt freundlich fragend in die Runde. Er hört schwer. Ab und zu ruft ihm seine Frau einen Satz ins Ohr. Dann nickt er hektisch. Herr Palik ist bald über 90. Er erhebt sich und ruft: „Es wird wieder Krieg geben. Wir müssen etwas unternehmen!“ Es geht nicht um den Krieg zwischen Jung und Alt – es geht um den Krieg im Irak.

Herr Palik beginnt, Georg Herweghs „Bundeslied“ zu rezitieren. „Bet’ und arbeit’! ruft die Welt. Bete kurz, denn Zeit ist Geld“, donnert es über die Kaffeetafel. Als er die zehnte Strophe erreicht, ist Herr Palik nur noch Stimme: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“

Einige Senioren sind aufgestanden, sie stapeln das schmutzige Geschirr.