Deine Eltern und siebzehn andere Hippies

Sind die Kinder der Revolution wirklich alle einsam und unglücklich? – Roanne jedenfalls will nicht mit ihrer Herkunft brechen und die Utopien ihrer Eltern über Bord werfen. Sie muss einfach nur mal raus: Die Amerikanerin Gale Zoë Garnett erzählt mit „Blue Girl“ ein Teenager-Märchen aus einer anderen Zeit

von SUSANNE MESSMER

Hippiekinder werden in der Literatur gern als einsam und frustriert beschrieben. Mal entwickeln sie sich in die konservative Richtung, dann haben sie sich in einer Schlaufe aus Selbstzerstörung und vergeblichen Ausbruchsversuchen verfangen – Hauptsache, sie fallen nicht auf die Utopien der Eltern herein. Jugendliche, die von ihrer liberalen Erziehung profitieren, die es genießen, sich nicht mehr mit Befehlsstrukturen, sondern nur noch mit Entscheidungskonflikten auseinander setzen zu müssen, sind dagegen selten. Darum kommt einem Gale Zoë Garnetts „Blue Girl“, ein Adoleszenzroman aus der Sicht eines vierzehnjährigen Hippiemädchens, vor wie ein wertvoller Fund.

Gale Zoë Garnett – die sich sympathisch diffus schon vor dreißig Jahren als Schauspielerin und Sängerin psychedelischer Texte über Frieden und freie Liebe versucht hat und erst jetzt, sechzigjährig, mit ihrem ersten Roman fertig geworden ist – hat in „Blue Girl“ mit ihrer Ich-Erzählerin Roanne das unterhaltsame Bild einer energischen, fantasievollen und unerschrockenen Pubertierenden entworfen, die mit ihren Karikaturen Aufsehen erregt.

Roannes Mutter Del ist Künstlerin ohne festen Wohnsitz und Geld, ein Typ Frau, wie man ihn genauer und liebevoller selten beschrieben findet. Sie trägt viktorianische Kleider mit viel Chiffon und singt gern britische Rockmusik. Sie liebt ihre Tochter, der sie nicht nur mit drei das Lesen beibrachte, sondern auch ihren Jargon, den Ulrike Seeberger so stilsicher ins Deutsche übertragen hat, als sei sie in einer Kreuzberger Kommune aufgewachsen. Roanne vergöttert ihre Mutter, ohne dabei ihre Fehler zu übersehen. Unantastbar scheint das Verhältnis zwischen den beiden, bis Del mit dem Mann schläft, den ihre Tochter liebt. Roanne läuft davon.

Hier beginnt nun die Reise, die man aus unzähligen Adoleszenzromanen, aus Entwicklungsromanen seit hunderten von Jahren kennt, aber trotzdem gerne liest. Der junge Held macht sich auf den Weg, löst sich von seiner Familie und entwickelt ein eigenes Wertesystem, das ihn bei Karl Philipp Moritz und Goethe noch zur Vervollkommnung führt, in modernen Industriegesellschaften – bei Carson McCullers’ „Frankie“ und Jerome D. Salingers „Fänger im Roggen“ beispielsweise – aber scheitert. Der Unterschied: Bei Roanne ist es gar nicht wichtig, dass sie keine neue Rolle findet.

Zunächst einmal fährt Roanne von Kanada nach Kalifornien, um einen berühmten Karikaturisten zu besuchen, mit dem sie einmal Briefkontakt hatte. Sie fährt nach San Francisco, dann macht sie Zwischenstation bei der durchgeknallten Familie eines Schulfreundes und landet schließlich in der High Society Hollywoods. Obwohl Roanne weiß, dass die Menschen „wie Granaten sind, die ganz plötzlich explodieren und einem den Kopf wegreißen können“, wirft sie sich ihnen an die Brust, dass man sie als Leser am liebsten aus dem Buch retten würde. Aber falsch gedacht: Nicht Schlimmes passiert ihr je, die Erwachsenen nehmen sie auf, füttern sie durch und schlafen sogar mit ihr, ohne sie zu verletzen. Die Welt ist ein Wunderland, wie bei Alice.

Didi zum Beispiel, der Karikaturist, ein homosexueller Zwerg: In der ersten Nacht, in seinem Holzhaus, das er in den Mammutwäldern Kaliforniens versteckt hat, kann Roanne nicht einschlafen. Didi bittet sie in sein riesiges Bett und erklärt ihr, wie harmlos er sei. Sie stellt fest, dass er nach Erdbeeren riecht, und hält sich die ganze Nacht an seinem Buckel fest, einer Art Sanddüne, wie sie findet, unter der man sich verstecken kann.

Nun könnte man der Zeichnung der Figur Roanne vorwerfen, dass sie, weil von außen konstruiert, zu altmodisch geraten ist und mit der Wirklichkeit von Jugendlichen heute, auch wenn sie aus liberalen Verhandlungsfamilien kommen, nichts mehr zu tun hat. Man könnte die jugendlichen Helden von Autoren wie Douglas Coupland, Bret Easton Ellis oder Irvine Welsh anführen, die mit ihren leeren Helden unsere Vorstellungen von Autonomie und Individualität unterminieren und damit eher auf der Höhe der Zeit sind.

Aber dieses Buch lässt nun mal sich nicht mit dem Argument des Realismus aushebeln. „Blue Girl“ ist kein Rückfall in den aufklärerisch pädagogischen Adoleszenzroman, der dazu anhält, sich selbst zu finden. Roanne muss sich nicht verändern, sie muss nur einfach mal raus. „Blue Girl“ ist ein eher ein überbordend fantastischer Adoleszenzroman, der in einer Zeit spielt, wie sie hätte werden sollen. Die Hoffnung auf eine Welt, in der man Töchter allein lassen kann, ist längst zerschlagen, das weiß Gale Zoë Garnett sehr gut. Es ist berührend, wie unverzagt sie sich dieses Märchen zusammengezaubert hat.

Gale Zoë Garnett: „Blue Girl“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Seeberger. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, 350 Seiten, 8,95 €