Wie Aliens im Vorort

Kleine Fluchten, großer Ärger: Ulrich Köhlers Debütfilm „Bungalow“ erzählt lakonisch von einem Pubertätsdrama in der hessischen Provinz. Der Stress des Erwachsenwerdens trifft auf das nötige Phlegma, um sich ihm zu entziehen

Einmal fährt Paul auf dem Skateboard die kleine Anfahrtstraße zum Haus seiner Eltern hinunter. Die Kamera fährt im gleichen Tempo parallel und nimmt die Zuschauer mit in die gelassene Bewegung hinein, mit der der Held des Films wie eine Statue an den Sommerwiesen vorübergleitet.

Unten an der Kurve geht die Aura kaputt: Paul springt vom Brett und wechselt ein paar Worte mit einem Kumpel, der zufällig daherkommt. Dieser Zwanzigjährige ist der radikale Kontrast zu geschwätzigen Soap-Protagonisten, wie man sie etwa im Fernsehen als Jugendliche angeboten bekommt. Man schaut ihm dabei zu, wie er in Schwierigkeiten gerät, nicht verhandelt, weglaufen will und wieder zurückkehrt. Paul ist auf dem besten Weg, eine spätpubertierende Nervensäge zu werden, einer, der die niederen Instinkte harscher Erziehungsmethoden in seiner unmittelbaren Umgebung herausfordert und sich geschickt entzieht.

Dem Regisseur Ulrich Köhler und seinem Kameramann Patrick Orth gelingt etwas Ungewöhnliches in diesem Debütfilm: Schauplatz und Zeitabläufe gewinnen in ihren präzisen, großartigen Plansequenzen einen lakonischen Rhythmus. Pauls Geschichte entwickelt sich, obwohl die Figur nicht viel von sich selbst weiß. Erzählt wird mit lakonischen Mitteln, wie jemand nichts anderes im Kopf hat, als zu fliehen, und gerade deshalb immer wieder zurückkehrt.

Man schaut ihm dabei zu, wie er es mit unnachahmlichem Phlegma schafft, sich dem Stress des Erwachsenwerdens zu entziehen und dabei neuen Ärger provoziert. Paul verpasst mit Gleichmut die Abfahrt seiner Kompanie an einer Raststätte, setzt sich per Autostopp und zu Fuß einfach ab zum Haus seiner Eltern und muss den Rest des Films ständig vor den Feldjägern fliehen, die ihn wieder einsammeln wollen.

Köhler erzählt das Pubertätsdrama lakonisch, sein maulfauler, phlegmatischer Paul, ein Typ mit vernarbten Schienbeinen, hängenden Schultern und abweisender Miene ist nicht gerade sympathisch und zieht einen doch in seine Geschichte hinein. Der Berliner Skateboardprofi Lennie Burmeister spielt die Hauptrolle – und erweist sich dabei als Schauspieler, der seine selbstbewusste, nicht ganz ins coole Muster passende physische Präsenz sehr gut einsetzt. Pauls/Lennies Phlegma ist der heimliche Mittelpunkt, das Kraftfeld, auf das sich die Profischauspieler David Striesow und Trine Dyrholm (die in Thomas Vinterbergs „Festen“ zu sehen war) beziehen, aber auch Nicole Gläser, eine Berliner Schülerin, die in Valeska Grisebachs „Mein Stern“ brillierte und hier Pauls Exfreundin verkörpert.

„Bungalow“ spielt an dem Schauplatz, den der Titel angibt, am Ortsrand oberhalb einer hessischen Kleinstadt. Alles irgendwie normal und trist – ein Ausschnitt aus der wenig malerischen, wirklichen Provinz, wo der Bonzenglanz von einst schicken Flachbau-Eßigenheimen schon reichlich abgestanden wirkt, wo das Städtchen aus breiten Ausfahrtstraßen, Tankstellen und Raststätten zu bestehen scheint, wo nicht mal eine Explosion unten im Tal die Reibereien unter den Bungalowbewohnern unterbricht.

Der Film vermeidet das übliche Muster von Pubertätsdramen, die Kraftprobe findet nicht zwischen Eltern und aufsässigem Sohn statt, sondern verschiebt sich in den Konflikt zwischen Paul und seinem Bruder Max. Die Eltern sind in Spanien in Urlaub, das Haus ist verschlossen, als der entlaufene Rekrut zurückkommt und einbricht. Der ältere Max – von David Striesow als entschiedene, kontrollierte männliche Gegenfigur gekonnt unterspielt – ist ebenso wie Paul nur Gast im Haus, hat seine Reise für ein paar ungestörte Tage im Elternhaus unterbrochen, bevor er seine dänische Freundin Lene zu einem Filmjob nach München begleitet.

Auch Pauls Exfreundin Kerstin taucht nur noch für ein paar abschließende Worte und eine letzte Nacht in dem Bungalow auf. Alle wirken in diesem Milieu deutscher Provinznormalität wie die Aliens aus Lenes Science-Fiction-Drehbuch, das sie am Swimmingpool memoriert.

Das „Bungalow“-Drehbuch von Ulrich Köhler und Henrike Goetz spielt Max und Lenes Rollen als Pauls gehasste und geliebte Ersatzeltern bis in die ödipalen Tiefen durch. Nicht anders ist zu verstehen, dass die offene und unverstellt erotische Lene von Trine Dyrholm am Ende einen wenig plausiblen Gefühlstwist zeigt und Pauls Begehren nachgibt.

Das aufsässige große Kind scheint erreicht zu haben, was ihm die Ablösung von der Bungalowwelt ermöglicht – die grandiose Plansequenz des Finales legt diesen Schluss nahe.

CLAUDIA LENSSEN

„Bungalow“. Deutschland 2002. Regie: Ulrich Köhler. Mit Lennie Burmeister, David Striesow u. a., 84 Minuten