Gedanken fallen

Rot und Blau, Edelstahl und Haut: Steven Soderberghs „Solaris“ im Wettbewerb reduziert Stanisław Lems Science-Fiction-Roman auf eine makellose Liebesgeschichte mit somnambulem Sex-Appeal

von CRISTINA NORD

Ist das, was man wahrnimmt, wirklich oder Produkt einer Sinnestäuschung? Die Frage mag eine Spielerei sein, eine frivole vielleicht, und trotzdem übt sie einen unbestreitbaren Reiz aus. Jorge Luis Borges hat einige seiner schönsten Geschichten daraus gewonnen, „Die kreisförmigen Ruinen“ beispielsweise: Ein Mann träumt sich einen Sohn. Der tritt in die Welt als ein Wesen wie du und ich, mit dem einzigen Unterschied, dass Feuer ihn nicht verletzt. Sein Schöpfer tut alles, um seinem Sohn die Herkunft aus dem Traum zu verbergen, wird aber am Ende selbst mit einer Feuersbrunst konfrontiert. Die Flammen tun ihm nicht weh: Auch er war nur der Traum eines anderen.

Stanisław Lems Science-Fiction-Roman „Solaris“ (1961) arbeitet mit ähnlichen Motiven: Ein Forscher, Kris Kelvin, begibt sich auf eine Raumstation über dem ozeanischen Gebilde Solaris. Dieses Gebilde besitzt die Fähigkeit, die Vorstellung derer, die sich ihm nähern, zu kapern und anschließend zu materialisieren. Auf der Station sind die Dinge daher aus den Fugen. Kelvin soll Abhilfe schaffen, stattdessen bekommt er es mit der Wiedergängerin seiner toten Gefährtin Harey zu tun. Mag er zunächst noch wissen, dass Hareys Erscheinung Materie gewordene Imagination ist, geht ihm dieses Wissen zusehends verloren, und auf welcher Ebene er sich fortan bewegt – auf der der Wirklichkeit oder auf der seiner Einbildung –, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.

Elf Jahre nachdem Lems Roman erschienen war, verfilmte Andrei Tarkowski den Stoff, mit Donatas Banionis in der Rolle des Kelvin. Aus heutiger Sicht macht Kelvin in seinem Raumfahrerdress – lange Unterhosen mit nach außen gewendetem Suspensorium – keine gute Figur, dafür aber führt er mit seinen Kollegen Snaut und Sartorius lange Gespräche über den Sinn der Solaristik und die Gefahren des menschlichen Erkenntnisdrangs. Solaris sieht aus wie ein Ultraschallbild der Ursuppe, und kaum sind 170 Minuten verstrichen, verschluckt die wabernde Masse Kelvin, ohne dass der das so genau wüsste. Mehr noch: ohne dass es der Zuschauer so genau wüsste. Schließlich sollte man in einem Film, dessen Figuren nie wissen, auf welcher Wahrnehmungsebene sie sich bewegen, misstrauisch sein: Wer garantiert, dass das letzte Bild nicht lügt? Fest steht: Tarkowski erhielt für „Solaris“ in Cannes zwei Palmen, und Lem war nicht glücklich mit der filmischen Umsetzung seines Romans.

Noch einmal 31 Jahre später betritt Steven Soderbergh die Szene und bringt, indem er George Clooney in Banionis' Unterhose steckt, Solaris zurück in unsere Vorstellungskraft. Puristen dürfte das nicht gefallen, aber bei einem Stoff, dem das Wiedergängertum inhärent ist, müssen sie sich ihre Argumente gut überlegen. Soderbergh tauft Harey in Rheya um, besetzt sie mit Natascha McElhone und reduziert die Länge um gut eine Stunde. Nachdem er Fragmente einer Vorgeschichte erfunden hat, rückt er die Liebesgeschichte in den Mittelpunkt. Die Figuren schauen aus, als hätten sie einen Monat ohne Schlaf verbracht: eine gute Grundlage für ihren somnambulen Sexappeal.

Der Planet erscheint je nach Tageszeit als blauer Wasser- oder als roter Feuerball: ein guter Hintergrund für ein Ballett der Raumfähren. Dafür stand Kubrick Pate, nicht Tarkowski. In den Kontrast von Rot und Blau, von den Edelstahloberflächen der Raumstation und Clooneys Haut pflanzt Soderbergh einen romantischen Spross: die Idee der Überwindung des Todes durch die Liebe. Bei Lem wäre das ausgeschlossen: „Der ewige Glaube der Verliebten und der Dichter an die Macht der Liebe, die dauerhafter sei als der Tod, jenes ‚finis vitae sed non amoris‘, das uns durch die Jahrhunderte verfolgt – das ist eine Lüge“, heißt es im Roman. Im Film wird Clooney nicht müde, ein Gedicht von Dylan Thomas zu murmeln: „Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht; / Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.“ Nicht, dass das nicht schön wäre: Kamera, Setdesign und Schnitt sind – von Soderbergh erwartet man nach den makellosen Oberflächen von „Ocean's Eleven“ oder „Traffic“ nichts anderes – state of the art. Der Stoff steht seit Lems Roman ohnehin für sich: Sein Reiz überlebt jeden neuen Schöpfer.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, warum Soderbergh das Potenzial des kühnen Gedankenspiels aus den Augen verliert und stattdessen dazu übergeht, in den Gesichtern von Clooney und McElhone zu schwelgen. Er gruppiert die Nahaufnahmen zu einer verlangsamten Schuss-Gegenschuss-Folge, und der daraus resultierende elegische Rhythmus ersetzt, was Reflexion hätte werden können. Dies ist umso bedauerlicher, als das Kino selbst eine Art Solaris ist, indem es Tote am Leben hält, Vorstellungen materialisiert und so die Wahrnehmung von Wirklichkeit und Einbildung verschiebt.

Heute 16.30 Uhr CinemaxX 2, 22.30 Uhr Berlinale-Palast; morgen 9.30 Uhr Royal Palast, 20 Uhr International, 23.30 Uhr Royal Palast