peters‘ paradies
: Beginnt der moralische Überbau der Berlinale bereits zu schwanken?

Die überfällige Ehrung der Spreewaldgurke

Was bisher geschah: Die nicht ganz so zügige Ausgabe der Akkreditierungskarten führte am Mittwoch im Pressezentrum des Hyatt zu einer dauerhaften Schlangenbildung, die auch am Freitag noch lange nicht abgeklungen war. Obwohl manche darin ein erstes Versagen der Berlinale-Leitung sahen, handelte es sich vielmehr um deren größten Triumph. Immerhin wurde den professionellen Cineasten durch die oftmals stundenlange Warterei wieder die angemessene Demut vor der Filmkunst gelehrt, eine Tugend, die sie in den letzten Jahren dank allzu aufmerksamer Behandlung verloren hatten. Denn erst wer dauerhaft steht, weiß die Sitzgelegenheiten im Berlinale-Palast zu schätzen; was zeitgleich auf der Leinwand läuft, ist dabei fast egal.

Ein Glück, dass der Eröffnungsfilm „Chicago“ nicht ganz so egal war, wie manche erwarteten, sondern tatsächlich reizend und hübsch. Schön auch, dass alle Hauptdarsteller anwesend waren: Catherine Zeta-Jones nebst Gatten Michael Douglas, Reneé Zellweger und auch Richard Gere. Nicht so schön, dass Gere den interessierten Pressevertretern erklären musste, dass der Musicalfilm, eine Meditation über die geheimen Verheißungen von Ruhm und Gewalt, wohl in keinerlei Verbindung mit dem Festivalmotto „Towards Tolerance“ stehe. Brach der moralische Überbau daher schon mit Festivalbeginn zusammen? Wie sah es mit den anderen Wettbewerbsbeiträgen aus?

Ob die zwei afghanischen Flüchtlinge, die am Freitagmorgen in Michael Winterbottoms „In This World“ Richtung England zogen, sich auch der Toleranz entscheidend näherten, bleibt von dieser Stelle aus schwer zu entscheiden. Es ist aber durchaus denkbar, dass sie ihren Zuschauern die Toleranz als solche näher brachten. Kevin Spacey hingegen, der in „Shipping News“ noch nach dem Sinn des Lebens suchte, aber dabei leider nur Schiffe fand, bekommt in Alan Parkers „The Life Of David Gale“ als Todesstrafengegner, die Möglichkeit, die Todesstrafe am eigenen Leib zu spüren. Unter anderen Umständen würde man dabei wohl von der Ironie des Schicksals sprechen, in diesem Fall jedoch von Intoleranz und bösem Willen. Hinterher ließ Zhang Yimou dann in „Hero“ noch recht tolerant mit den Schwertern klappern, und schon war auch der zweite Wettbewerbstag wieder vorbei. Da Cineasten es aber gewohnt sind, nach vorn zu schauen, ließen sie das Gesehene gleichmütig hinter sich zurück. Noch ist die Bärenfrage offen; noch gilt, dass nichts muss, aber alles kann.

Bis allerdings die einzelnen Sieger gekürt werden, bietet es sich an, noch ein paar andere Preise auszurufen, um sie sogleich zu verteilen. Die Auszeichnung für „den überflüssigsten Film, der nicht nur viele Jahre zu spät kommt, sondern auch konzeptuell ziemlich in der Mitte durchhängt“, geht an Romuald Karmakar und sein Werk „196 bpm“. Der Film, der bei der letztjährigen Love Parade sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Diskothek gedreht wurde, behandelt das völlig neuartige Phänomen Techno, indem er die Parade in Echtzeit zeigt. Applaus. Den Preis für „die mutigste Zurschaustellung relativ privater Körperteile durch einen Hollywood-Schauspieler im Dienste der Kunst“ erhält George Clooney, der in „Solaris“ für einige wenige Sekunden sein Hinterteil in die Kamera hält. Wahnsinn. Ein ganz besonderes dickes Lob geht allerdings an Wolfgang Beckers Beitrag „Good Bye, Lenin!“ für „die längst überfällige Ehrung der Spreewaldgurke als nicht nur beliebtes, sondern auch zeitgeschichtlich relevantes Essiggemüse“. Guten Appetit. HARALD PETERS