Das Vibrieren der Worte

160 Zeichen für ein Gedicht: Mit den SMS ist eine neue literarische Form entstanden. Doch es gilt, dabei bestimmte Regeln einzuhalten

Die Telefongesellschaften haben bislang mit SMS weit mehr verdient als mit Gesprächsgebühren. Aber neue Medien führen nicht nur zu neuen Umsätzen, sondern auch zu neuen ästhetischen Formen. E-Mails sind etwas anderes als Briefe. Weil sie irgendwo zwischen mündlicher Rede und Brief liegen, schreiben viele in ihren E-Mails zum Beispiel grundsätzlich klein.

SMS liegen als Schreibgenre irgendwo zwischen den Zetteln, die sich früher Schüler zuzustecken pflegten, kurzen Sätzen, die man einander ins Ohr flüstert, und Gedichten wie den japanischen Haikus, deren Länge und Form streng festgelegt ist. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit insgesamt 17 Silben. Die Silbenaufteilung ist fünf/sieben/fünf. Die klassische SMS, die ihre Blütezeit zwischen 2000 und 2002 erlebte – die neue Handygeneration erlaubt bis zu dreihundert Zeichen – ist exakt 160 Zeichen lang.

Bei diesen 160 Zeichen kann man natürlich auch ein bisschen schummeln, wobei zwischen legitimen und illegitimen Formen der Mogelei unterschieden werden sollte. Legitim sind die Mogeleien, die einem bestimmten System gehorchen – etwa wenn nach jeder Abkürzung ein Punkt kommt oder eben durchgehend keiner, wenn man ganz auf Satzzeichen verzichtet, wenn man seinen Namen abkürzt oder ausschreibt beziehungsweise ganz auf seinen Namen am Ende verzichtet; illegitim ist es dagegen, wenn man einmal nach einem Satzzeichen ein Leerzeichen setzt und ein andermal nicht.

Wie auch immer – SMS sind ein schönes, sehr persönliches Textgenre, und jeder hat vermutlich in seinem Handy ein paar besonders gut gelungene SMS gespeichert. Nun ist ein Büchlein mit dem Titel „SMS-Lyrik – 160 Zeichen Poesie“ erschienen (herausgegeben von Anton G. Leitner, dtv, München 2003, 99 Seiten, 6 Euro). 160 SMS mit jeweils 160 Zeichen – eine schöne Sache, denkt man zunächst und ist dann, wenn man reinguckt, doch ziemlich enttäuscht.

Betrug! Kaum eine der Regeln, die SMS von anderen Texten unterscheiden, wurde beachtet. Und die einzigen Regeln, denen die Texte entsprechen, sind verwässert: Was zwischen 160 und 300 Zeichen liegt, nennt man dann einfach „Power-SMS“. Handyspezifisch, das heißt mit vom Display vorgegebenen Zeilenumbrüchen, sieht kein Text aus. Und dass in dem Büchlein auch Kürzesttexte von Eduard Mörike, Gottfried Benn, Eichendorff, Wilhelm Busch, Hesse, Goethe oder Hölderlin stehen, dass ein Teil dessen also aus Kalenderblattlyrik besteht, ist schon ein starkes Stück.

Der Titel des Buchs ist also eine einzige Lüge. „Tu gut, / tu Gut- / es o Mimose. / Es – ohne diese Seidenhose!“ (Herbert Pfeiffer), mag ja ganz hübsch klingen, hat aber nur 57 Zeichen. Und die meisten Texte der zeitgenössischen AutorInnen sind nicht einmal hübsch, sondern grässlich! „komm komm – es / blitzt im Bauch / ein Gewitter naht / komm komm / geliebter Donner / jetzt“ (Nikolaus Dominik). So was in der Art halt.

Viel interessanter als der dtv’sche Etikettenschwindel ist das seltsame Genre des SMS-Sexes, für das im Videotext von Sat.1 etwa geworben wird. Um in den Genuss dieses Angebots zu kommen, muss der Interessierte zum Beispiel eine SMS mit dem Kennwort LULU an irgendeine Nummer schicken und bekommt dann für jeweils 1,49 oder 1,69 Euro hübsche Sex-SMS geschickt. Ein interessantes Arbeitsfeld vielleicht auch für notleidende Ex-FAZ-Redakteure.

Das Tolle dabei: Manche der SMS-Sex-Werbetexte sind exakt 160 Zeichen lang. Zum Beispiel: „Suesse girls (19+) warten auf Deine SMS. Viele erfreuen sich an dem Vibrieren ihrer Handys, wenn eine SMS eingeht. Keine Angst: Auch du kommst auf Deine Kosten.“ DETLEF KUHLBRODT