„Demokratie? Unmöglich.“

Interview REINER WANDLER

taz: Herr Sansal, Sie sind hoher Beamter im Industrieministerium und gleichzeitig ein Schriftsteller, der dem algerischen Regime sehr kritisch gegenübersteht. Wie kommen Sie mit diesem Widerspruch zurecht?

Boualem Sansal: Ich habe diesem Regime nie allzu viel Sympathie entgegengebracht. Ich war von jeher ein Außenseiter. So bin ich an der Universität nicht wie alle meine Kommilitonen in die staatliche Studentenorganisation eingetreten. Auch später, als sich alle von ihrem FLN-Parteibuch eine bessere berufliche Zukunft versprachen, trat ich weder der Partei noch der Gewerkschaft bei. Das algerische Regime manipuliert alles und alle. Doch zur Manipulation gehören auch immer die, die sich manipulieren lassen wollen. Das war hier zu Zeiten des Einparteiensystems die überwältigende Mehrheit. Alle meine Freunde, alle meine Kollegen waren in der FLN.

Sie haben in den schlimmsten Jahren des Konflikts zwischen Regime und Islamisten angefangen zu schreiben.

Das war Mitte der 90er-Jahre. Die Islamisten waren überall. Das Regime war kurz vor dem Zusammenbruch. Uns war klar: wenn die Islamisten an die Macht kommen, sind wir die Ersten, die verfolgt werden. In meinem Umfeld gab es nur noch ein Thema. Was tun? Wohin gehen? Nach Marokko, nach Tunesien, nach Frankreich … Wir waren vollständig orientierungslos. In dieser Situation begann ich zu schreiben. So entstand mein erstes Buch „Der Schwur der Barbaren“. Als ich anfing, hab ich nicht daran gedacht, es einmal zu veröffentlichen. Ich schrieb für mich.

Eine Art inneres Exil?

Sicher. Auch eine Art Exorzismus. Ich arbeitete kaum noch. Ich lebe 50 Kilometer von Algier entfernt. Die Straßen waren unsicher, die Züge auch. Ich konnte erst spät zur Arbeit fahren und musste ganz früh zurück. Nachmittags schloss ich mich dann zu Hause ein. Sirenen, Schüsse, Explosionen, die Nachrichten von Massakern, rund herum, Autobomben mitten in Algier … was macht man in einer solchen Situation? Wenn man nicht mehr lebt? Ich schrieb und schrieb.

Warum schreiben Sie auf Französisch?

Wenn ich jünger wäre, hätte ich vielleicht auf Arabisch geschrieben. Denn dann wäre ich auf Arabisch ausgebildet worden. Ich ging vor der Unabhängigkeit zur Schule. Die einzige Sprache, die es mir erlaubt, alles auszudrücken, ist das Französische.

Wie wichtig ist die französische Kultur in Algerien heute?

Französisch ist immer noch die Arbeitssprache der Verwaltung. Und das, obwohl es seit den 80er-Jahren eine Arabisierungspolitik gibt. Und die wenigen arabischsprachigen Minister, die wir haben, sprechen ein an den Koran angelehntes Arabisch. Das ist so vieldeutig, dass es als Arbeitssprache nicht brauchbar ist. Und das algerische Arabisch ist eine reine Umgangssprache. Von den Arabophonen wird es als minderwertig angesehen. Es ist zu weit von der heiligen Sprache des Korans entfernt.

Und das alltägliche Leben?

Auch das ist sehr stark vom Französischen geprägt. Vor allem die Älteren sind alle auf Französisch ausgebildet. Die Jungen lernen es auf der Straße und aus dem Fernsehen. Doch es gibt auch einen anderen Teil der Bevölkerung, der immer mehr Richtung Osten, in die arabischen Länder am Golf, schaut. Was sie dort vorfinden, ist für sie geheimnisvoll und anziehend zugleich. Sie orientieren sich zunehmend an den Ursprüngen des Islam. Gleichzeitig begeistern sie sich für Despoten wie Saddam Hussein und für die radikalen Islamisten. Das sind für sie Führer, die sich mit den USA und Europa anlegen.

Heißt das, dass Französisch- und Arabischsprachige sich nicht nur durch die Sprache unterscheiden, sondern auch in der Art, die Welt zu begreifen?

Zweifellos. Man sieht die Welt nicht mit den gleichen Augen. Ein Beispiel: Jemand, der von der französischen Kultur und Sprache geprägt ist, wird rationell herangehen und nach Gründen suchen, wenn er die Armut untersucht: Es gibt Armut, weil die wirtschaftlichen Grundlagen für eine Entwicklung fehlen, weil die sozialen Strukturen nicht effektiv genug sind, weil …, weil …, weil. Wenn ein von der islamischen Kultur geprägter Arabophoner das gleiche Phänomen erklärt, wird er zum Schluss kommen: Wir sind arm, weil wir keine guten Muslime sind. Die Armut ist also eine Strafe Gottes. Oder anders herum: Wenn wir alle gute Gläubige werden, verschwindet auch die Armut.

Ihr Roman wäre also auf Arabisch nicht denkbar?

Ganz sicher nicht. Natürlich gibt es auch eine arabische Kultur der Erzählung, der Satire, des Humors. Aber das ist alles ganz stark von religiösen Werten geprägt. Und in den allermeisten Fällen ist arabophon mit religiös, mit islamischer Ideologie gleichzusetzen. Natürlich gibt es auch in der arabischen Kultur universelles Wissen. Aber in den letzten Jahren wurde all das manipuliert. Und heute ist die arabische Identität gleichbedeutend mit muslimischer Identität.

Die Gewalt, die Sie einst zum Schreiben brachte, hat abgenommen. Sieht Algerien das Licht am Ende des Tunnels?

Die islamistische Gewalt ist tatsächlich zurückgegangen. Aber schon beginnt ein neuer Zyklus der Gewalt. Dieses Mal ist es die Gewalt der Straße. Überall – nicht nur in der Berberregion Kabylei – macht sich diese Gewalt breit. Öffentliche Einrichtungen werden in Brand gesetzt, Rathäuser, Schulen. Wir sind so tief gesunken, dass die Gewalt für viele Menschen der einzige Ausweg zu sein scheint.

Gleichzeitig gibt hier keine wirkliche Opposition.

Das ist auch das Ergebnis der Arabisierungspolitik. Wenn wir uns in der arabischen Welt umschauen, gibt es nirgends eine Opposition im eigentlichen Sinne. Das vom Islam beeinflusste Gesellschaftsmodell kennt nur den Rais, den Chef, und das Volk im Basar. Eine Opposition ist nicht vorgesehen. Denn Opposition bedeutet nicht nur Opposition gegenüber dem Regime, sondern auch gegenüber den Gesetzen, dem Propheten und selbst gegenüber Gott. Opposition ist Opposition gegenüber allem. So etwas kann es in der arabisch-muslimischen Welt nicht geben. Die Opposition hier in Algerien ist keine richtige Opposition, sie will nur ihr Stück vom Kuchen aushandeln. Vor diesem Problem einer fehlenden echten Opposition werden auch die USA im Irak stehen. Wer soll dort Saddam Hussein ersetzen?

Soll das heißen, dass in den arabischen Ländern eine demokratische Entwicklung nicht machbar ist?

Demokratie, so wie sie in Europa verstanden wird, ist unmöglich. Und das nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, zum Beispiel in der Familie. Die arabisch-muslimische Kultur ist sehr archaisch. Was zählt, sind die Traditionen. Der gesamte Diskurs beruft sich immer wieder auf die goldene Vergangenheit. Die Vergangenheit soll die Überlegenheit der arabisch-islamischen Welt gegenüber der christlich-jüdischen Welt belegen. Natürlich nehmen auch die arabischen Muslime den Rückgang der Bedeutung der arabischen Welt wahr. Sie fühlen sich dadurch erniedrigt. Und dies wiederum führt ganz direkt zur Gewalt. Der 11. September war deshalb nur der Anfang.

Dann erleben wir tatsächlich das, was Samuel P. Huntington „Clash of Civilizations“ nennt?

Ganz sicher. Wir haben 1992 gedacht, dass die Gewalt in sechs Monaten besiegt ist. Und der Terror geht bis heute weiter. Die Europäer haben den gleichen Fehler begangen. Sie haben geglaubt, dass der islamistische Terror nur gegen ein korruptes Regime gerichtet sei. Doch den Islamisten geht es um mehr.

Ist Algerien so etwas wie die Linie zwischen der europäischen Kultur in Form der frankophonen und der arabischen Kultur in Form der arabischen Muslime und Islamisten?

Das, was hier in Algerien passiert, ist eine entscheidende kulturelle Auseinandersetzung. Es geht um den Gewinn von Terrain. Auch wenn sich der Konflikt hin und wieder beruhigt, geht er weiter. Wir leben in einem Zyklus der Gewalt, der sehr, sehr lange anhalten wird. Die Gewalt ist für die, die sie anwenden, etwas sehr Nobles. Man mag die Schwachen nicht. Was zählt, sind die Helden, die starken Männer.

Wo ist in diesem Szenario der Platz für Leute wie Sie?

Den gibt es nicht. Vielleicht dulden sie uns als eine Art Narren. Mehr aber auch nicht.