Die Gefangennahme von Schamil

Die Ausstellung, die zu viel über die Missverständnisse und die imperiale Praxis so genannter kultureller Beziehungen verrät: Zur Rettung der Bestände des „Tschetscheno-Inguschetischen Republikanischen Museums“ inszenierte die Tretjakow-Galerie „Lasst uns Grosny sein Museum zurückgeben!“

von BARBARA KERNECK

Noch sitzen die Restauratoren des staatlichen Grabar-Zentrums in Moskau an den letzten Pinselstrichen für einige der beschädigten Gemälde, die die ehrwürdige Moskauer Tretjakow-Galerie im vergangenen Sommer ausstellte – mitten im Prozess ihrer Wiederherstellung. Es handelt sich um Bilder aus dem Museum für bildende Kunst der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Direkt neben dem Regierungspalast gelegen, wurde das Gebäude während des so genannten ersten Tschetschenienkrieges zur Bastion der einheimischen Kämpfer und 1995 völlig zerbombt.

Kurz darauf fanden Mitarbeiter des russischen Katastrophenschutz-Ministeriums in den Trümmern des Gebäudes rund vierhundert Gemälde, die aufgrund der Kriegshandlungen teils bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt oder aufgeweicht waren. Andere Bilder hatten die Rebellen mutwillig zerstört. Vielen Porträts stachen sie zum Beispiel die Augen aus, entblößte weibliche Körper oder tiefe Dekolletees machten sie zu Zielscheiben beim Wettschießen oder Messerwerfen. Mit Zustimmung der damaligen tschetschenischen Regierung von Aslan Maschadow wurden sechzig der am übelsten zugerichteten Bilder zur Restaurierung nach Moskau verbracht. Dort fand dann die Ausstellung „Lasst uns Grosny sein Museum zurückgeben!“ statt. Gleichzeitig startete die Tretjakow-Galerie auch eine Spendenkampagne für den Wiederaufbau des Gebäudes in Grosny – als edles Vorhaben zugunsten des geschundenen tschetschenischen Volkes.

Wer nun in der Ausstellung tschetschenische Kunst erwartet hatte, wurde enttäuscht. Gezeigt wurde wenig westeuropäische und viel russische Malerei aus dem 19. Jahrhundert. Was nur hatten in Grosny die Porträts zaristischer Hofdamen, hoher Generäle und sogar einer Zahlmeisterin zu suchen? Schon eher in die Region passten eine Reihe von Gemälden aus der Zeit jenes russisch-tschetschenischen Konflikts, der unter dem Namen „Kaukasus-Krieg“ 1824 begann und ein Vierteljahrhundert dauerte. Die Titel der Bilder von Alexei Kuschenko oder Fjodor Lwow sprechen für sich: „Zusammenprall von Kosak und Bergbewohner“ heißt das eine, „Karawane im Tal“ das andere. Einen Tschetschenen mit hoher Fellmütze, der von seinem Ross nachdenklich in eine tiefe Schlucht hinabschaut, zeigt Grigori Gagarins „Blick vom Stolowaja-Berg“. All diese Bilder entwickeln ihre Dramatik aus der Kleinheit des Menschen vor der Kulisse der Berge und aus der Würde der Eingeborenen im Angesicht des Todes.

Glanzstück des Museums war das in der Sowjetunion zur Lesebuchillustration avancierte Monumentalgemälde des Schlachtenmalers Franz Roubaud: „Sturm auf Aul Gunib und die Gefangennahme von Schamil am 25. August 1859“. Roubaud dokumentierte nach Aussagen von Augenzeugen nachträglich jene Szene, die den Vierteljahrhundertkrieg beendete. Der Künstler verewigte damit eine Niederlage, die die Tschetschenen noch heute für das Resultat eines schmählichen Verrats halten. Imam Schamil, der Anführer der Bergstämme, ergibt sich resigniert dem zaristischen Kommandeur Prinz Alexander Baratynski. Das Gemälde konnte im Sommer nicht gezeigt werden. Inzwischen stellte sich heraus, dass es nicht mehr zu retten ist. Beim Versuch, das Bild aus der Russischen Föderation zu schmuggeln, hatten Banditen die 3,50 Meter mal 2,50 Meter große Leinwand zur Größe eines Zigarrenkistchens zusammengefaltet.

Es bleibt die Frage: Warum bestückten die Tschetschenen ihr Museum ausgerechnet mit Werken, die ihre historische Niederlage illustrierten? Eine Antwort hierauf gibt der Katalog der Tretjakow-Ausstellung. In seinem Vorwort bezeichnet Kulturminister Schwydkoi die Ausstellung als „soziale und politische Errungenschaft“. Er fährt fort: „Ihre Organisatoren haben es geschafft, in diese konzentrierte, aber bedeutungsreiche Ausstellung die Symbole einer in der russischen Gesellschaft neu entstehenden Spiritualität zu integrieren. Als Leitmotiv dieser Ausstellung, als ihre moralische Stimmgabel, dienen der für unser Volk so charakteristische Patriotismus, der Wunsch, kulturelle Traditionen zu erhalten, und das gemeinsame historische Gedächtnis der Nation.“ Mit „unserem Volk“ meint Schwydkoi natürlich die Russen. Er geht offensichtlich noch immer davon aus, dass der russische Patriotismus auch die Tschetschenen mitreißt. Aus demselben Missverständnis heraus hatte die sowjetische Regierung im Jahre 1961 das „Tschetscheno-Inguschetische Republikanische Museum für die Schönen Künste“ in Grosny gegründet.

Die Ideologie der Gleichheit und Brüderschaft der Völker der Sowjetunion wurde so mit kulturellem Inhalt gefüllt. Das kleine Volk freilich, das sich an der neuen Errungenschaft ergötzen sollte, war 1934 von Stalins Schergen mit Mann und Maus in die kasachische Steppe deportiert worden. Bei Gründung des neuen Kunsttempels in Grosny hatten die Überlebenden dieser Aktion gerade mal vier Jahre Zeit gehabt, sich wieder in ihrer Hauptstadt anzusiedeln. Die neue Kunsthalle baute auf den Beständen des alten örtlichen Museums für Ethnografie auf. Da aber Ölmalerei in der tschetschenischen Volkskunst keine wesentliche Rolle spielte, wurden die drei führenden Staatsgalerien des Landes, die Eremitage, das Russische Museum in Leningrad und die Tretjakow-Galerie in Moskau, dazu verdonnert, der Zwergrepublik die entsprechenden Gemälde zu schenken.

„Ich bin mehrmals im Grosnyer Museum gewesen“, schrieb ein Besucher ins Gästebuch der Tretjakow-Ausstellung: „Die dortige Sammlung war passabel, aber sogar zu jener Zeit, in den 70er- und 80er-Jahren, unter den Tschetschenen nicht besonders populär. Besonders das Bild von Roubaud brachte sie auf. Es zurückzugeben, hieße, es zu zerstören. Zuerst müssen wir aus Grosny wieder ein russisches Fort machen.“ Viele Betrachter in der Tretjakow-Galerie brachten die durch Fotos dokumentierten Verwüstungen gegen die Tschetschenen auf. Am kürzesten formulierte ein Eintrag ihre Reaktion: „Bitte, bitte, gebt den Wilden nicht diese Bilder zurück, die sie nicht brauchen.“

Nach den antitschetschenischen Ausbrüchen finden sich am zweithäufigsten Einträge, die den Krieg im Allgemeinen für das Gesehene verantwortlich machen. Das Folgende haben zwei Frauen mit russischen Familiennamen unterschrieben: „Dieses Gästebuch ist ein Exponat für sich. Die Leute verhalten sich sehr interessant. Die, die ein ganzes Volk für Banditen halten, schreiben über die tschetschenischen Barbaren. Die, die sie für Freiheitskämpfer halten, beschuldigen unsere Armee. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, wer die Bilder nicht geschützt, wer sie nicht rechtzeitig hinausgetragen und wer mit seinen Stiefeln über sie weggetrampelt ist? Das ist ein Krieg! Die ihr da ‚Barbaren!‘ schreibt, ihr solltet euch mal inmitten dieses Drecks und des Todes wiederfinden, verehrte Liebhaber der russischen Kunst! Dann würdet ihr nur an zwei Sachen denken: wo ihr was zu fressen herbekommt und wie ihr überlebt. Und die Bilder wären euch egal!“

Die Befürchtung, dass die von den russischen Galerien gespendeten Bilder Schaden nehmen könnten, hat die Mitarbeiter des Restaurierungszentrums offenbar über Jahrzehnte begleitet. Immer wieder haben sie den Bestand des Grosnyer Museums restauriert, an Ort und Stelle und in Moskau. Deshalb war der ursprüngliche Zustand der Gemälde im Zentrum hervorragend dokumentiert. Die gleiche professionelle Liebe legten übrigens auch die Mitarbeiter des tschetschenischen Museums an den Tag, von denen einige ihre Exponate unter Einsatz des Lebens gegen Marodeure zu verteidigen suchten.

Fragt man die Restaurateure, was aus den Gemälden einmal werden soll, dann verweisen auch sie auf einen Eintrag im Gästebuch: „Unbedingt müssen wir diese Bilder nach Grosny zurückbringen, aber zuerst muss nach Grosny ein friedliches, ruhiges und prosperierendes Leben zurückkehren. Und das zu bewerkstelligen ist leider noch schwieriger, als Bilder zu restaurieren.“

Die Ausstellung wird im Frühjahr 2003 im russischen Konsulat in New York gezeigt