Vom Leben in Grenzsituationen

Handel und Wandel auf beiden Seiten der Oder: Mit den kunstvoll verschränkten Geschichten seines Episodenfilms „Lichter“ im Wettbewerb ist Hans-Christian Schmid ein vielschichtiges Sittengemälde der deutsch-polnischen Grenzregion gelungen

von DANIEL BAX

Es ist ein merkwürdiger Fall von Realitätsspiegelung, den Potsdamer Platz auf der Leinwand zu sehen, wenn man ebendort gerade im Berlinale-Kino sitzt. Andererseits dürfte die einst größte Baustelle Europas in ihrem Bauch genug Geschichten bergen, dass man sich eigentlich wundert, ihr nicht häufiger auf der Leinwand zu begegnen: Solche Geschichten wie die von dem Schwarzarbeiter aus der Ukraine, der als Illegaler auf der Baustelle aufgegriffen und zurückgeschickt wurde, und der den fertig bebauten Platz deshalb nie zu Gesicht bekommen hat. Von ihm kennt Kolja, ein Flüchtling aus der Ukraine, den heutigen Stadtteil in der Mitte Berlins auch nur vom Hörensagen. Doch das ist ihm Grund genug, sich auf den Weg dorthin zu machen.

Ein ganzes Bündel solcher kleinen Geschichten hat Hans-Christian Schmid zu einem kunstvollen Episodenfilm verknüpft, der ein vielschichtiges Sittengemälde vom Leben an einer Wohlstandgrenze zeichnet, genauer gesagt: vom Handel und Wandel auf beiden Seiten der Oder: Da ist der Flüchtlingstross aus der Ukraine, der von einer Schlepperbande fast schon in Sichtweite der deutsch-polnischen Grenze, ausgesetzt wird. Nur einer von ihnen, eben Kolja, gelangt am Ende mit Hilfe einer altruistischen Fluchthelferin ans Ziel seiner Sehnsüchte. Da ist der Pleitier in Frankfurt (Oder), der mit seinem Matratzenladen kein Glück hat. Da ist die Underdog-Familie, die sich mit Zigarettenschmuggel durchschlägt. Und da ist der junge Architekt aus dem Westen, den ein binationales Bauprojekt nach Słubice verschlägt, wo er seiner früheren polnischen Freundin wiederbegegnet, die sich jetzt als Übersetzerin verdingt.

Das sind nur ein paar der vielen Geschichten, die allesamt für sich schon Stoff für einen Film geboten hätten. Schmid verdichtet sie zum vielschichtigen Gesellschaftsbild und verschränkt sie so kunstvoll wie ein Robert Altman. Man könnte „Lichter“ deshalb irgendwo zwischen „Short Cuts“ und „Halbe Treppe“ ansiedeln: Wie Altman beweist Schmid einen genauen Blick für sein Milieu. Und wie Dresen hat er sein Auge auf den östlichen Hinterhof der Republik geworfen, dem selten viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Zu Unrecht, wie „Lichter“ beweist: Lassen sich doch vielleicht gerade hier Geschichten voller Welthaltigkeit erzählen. Ein Film, dem man den Goldenen Bären wünscht.

Heute, 15 und 18.30 Uhr, Royal Palast