Natur geht klar

Die traurige Ansicht von Neubaufassaden und andere urbane Wirklichkeiten: Christoph Hochhäuslers „Milchwald“ im Forum aktualisiert Grimms Märchen von Hänsel und Gretel zum dem von Konstantin und Lea, für die der Wald nicht das Schlimmste ist

von THOMAS WINKLER

Es waren einmal zwei Kinder. Sie hießen Konstantin und Lea, nicht Hänsel und Gretel. Die Stiefmutter trug Kostüm und rauchte zu viel, das Knusperhäuschen war ein Lieferwagen, die Hexe ein im Hygienegeschäft tätiger Pole. Sonst aber ist fast alles beim Alten in dieser Version des Grimm’schen Märchens.

Christoph Hochhäusler aktualisiert in seinem ersten langen Film „Milchwald“ das altbekannte Motiv konsequent. Vor allem aber erweitert er die Rolle der Stiefmutter: Die ist nun nicht mehr nur eindimensional böse, sondern selbst Opfer der Umstände. Als Sylvia die achtjährige Lea und den siebenjährigen Konstantin von der Schule abholt und mit ihnen über die nahe gelegene Grenze zum Einkaufen nach Polen fährt, brechen lang versteckte Konflikte mit Macht hervor. Die Spannung wächst, bis Lea „Du bist nicht unsere Mutter“ faucht. Sylvia reagiert mit Drohungen, die Kinder äffen sie nach, bis sie die beiden schließlich auf einer unbelebten Landstraße aus dem Wagen wirft und weiterfährt. Eher erstaunt als erschüttert bleiben die beiden Kinder am Straßenrand zurück. Als Sylvia sich wenig später besinnt und zurückkehrt, sind sie im Wald verschwunden.

Zurück im neu errichteten Eigenheim am Rande des Braunkohletagebaus warten Wände aus rohen Rigipsplatten und ein Mann, der Fragen stellt, keine Antworten bekommt, aber prompt zur Tat schreitet. Nun steht auch noch eine Lüge zwischen ihnen, und während westlich der Grenze das übliche Programm aus Spürtrupps und Suchmeldungen in der „Tagesschau“ anläuft, begeben sich die Kinder auf eine polnische Odysee mit Kuba, der seinen Lieferwagen zu Restaurants und Raststätten lenkt, um dort Papierhandtücher und Seifenspender aufzufüllen.

Hochhäusler hat, bevor er Regisseur wurde, Architektur studiert. In „Milchwald“ liefert er auch ein Porträt urbaner Realitäten. Die zermürbenden Ansichten nichtssagender Neubaufassaden stehen in hartem Kontrast zu den sommerlich warmen Stimmungen aus Wald und Flur, in denen die Kinder verloren zu gehen drohen. Auch eingeschlossen in vier Wänden rückt Hochhäusler seinen Protagonisten nur selten nahe, lässt stattdessen die Kamera nur aus der Ferne beobachten, scheint mitunter interessierter am Raum zwischen den Figuren als an ihnen selbst und arbeitet so die Sprachlosigkeit zwischen ihnen umso deutlicher heraus. Vor allem Sylvia bleibt nichts außer der Agonie zwischen nicht wieder gutzumachender Schuld und verzweifelter Liebe zu einem Mann, von dem allein sie weiß, dass sie ihn bereits verloren hat.

In letzter Konsequenz aber verlässt „Milchwald“ dann doch seine Vorlage. Dieses Märchen endet nicht mit der glücklichen Heimkehr der Kinder zu ihrem Vater.

Heute, 13.30 Uhr, Arsenal, 17 Uhr, CineStar 8; morgen, 21.30 Babylon