Die Gewöhnlichkeit des Krepierens

Klassischer Existenzialismus im Wettbewerb: Patrice Chéreau weigert sich in seinem neuen Film „Son frère“, dem Sterben einen Sinn zu geben

Vor drei Jahren gewann Patrice Chéreau mit „Intimacy“ den Goldenen Bären. Während er in diesem Film von der Sexualität erzählte, handelt „Son frère“ vom Sterben. Im einen wie im anderen geht es also um Bezirke des Lebens, die in unserer Gesellschaft tabuisiert sind; Porno- oder Krankenhausfilme kleben ja nur an der Oberfläche dessen, was sie vorgeben zu behandeln. Das Verstörende, Zerstörende wird ausgeschlossen; mehr noch in der Gegenwart, als zu der Zeit, in der Ariès etwa seine „Geschichte des Todes“ schrieb.

Thomas (Bruno Todeschini) ist Mitte dreißig und schwer krank. Eine seltene Bluterkrankung, die ähnlich zerstörend wirkt wie Aids. Er besucht seinen kleinen Bruder Luc und bittet ihn, ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Luc wird ihn bei seinem monatelangen Sterben begleiten, am Krankenbett sitzen, die Nächte neben dem Bett seines Bruders verbringen, nicht weil er so toll wäre, sich aufopfern wolle, sondern weil ihn der Bruder darum gebeten hatte.

Der Realismus des Films berührt sehr. Ich meine damit nicht nur die halbdokumentarischen Bilder beschädigter Körper, die Schläuche und Maschinen, an die der Kranke angeschlossen ist, die Narben an den Körpern, die aufgeschnitten werden, ohne rechte Aussicht auf Erfolg (am beeindruckendsten eine quälend lange Szene, in der der Kranke vor einer Operation am ganzen Körper rasiert wird, in der er nur noch ein hilfloses Ding in den Händen der Krankenschwestern ist), sondern auch in den Dialogen. Es ist ja nicht so, dass man, während man stirbt, sich nun all das pathetisch sagen würde, könnte, was man sich schon immer sagen wollte, alle Dinge klären und ein Resumée seines Lebens ziehen. Das Deprimierende ist ja die Gewöhnlichkeit des Krepierens: dass die Gespräche am Bett oft wahnsinnig oberflächlich sind, dass der Todkranke ständig auch nervt, sich in sein Unglück einschließt, egoistisch wird, nur noch aus Angst besteht, während die panischen Angehörigen ihm vorwerfen, sich aufzugeben, die Ärzte ihn als Fall behandeln.

Natürlich gibt es auch die Momente einer berührenden Zärtlichkeit der Brüder, wenn sie am Strand auf einer Bank zusammensitzen, wenn sie über ihre Kindheit sprechen; ein „Ich liebe dich“ irgendwann, aber das, was Chéreaus Film groß macht, ist sein klassischer Existenzialismus, seine, nebenbei antiamerikanische, Weigerung, dem Sterben einen Sinn zu geben, das Sterben so oder so zu idyllisieren. Nach dem Film sagte eine Frau leicht vorwurfsvoll, „Son frère“ sei doch ein typisch männlicher Film. Frauen würden sich nicht das Leben nehmen am Ende wie Thomas, sondern brav weiterkämpfen, solange es noch Hoffnung gäbe. Einerseits wirkt der – gänzlich unpathetische – Selbstmord am Ende tatsächlich ein bisschen wie ein dramaturgisches Zugeständnis an die Zuschauer. Andererseits: Männer sind halt selbstdestruktiver als Frauen, repräsentieren aber auch einen Teil der Menschheit.

DETLEF KUHLBRODT

Heute, 9.30 Uhr und 23.30 Uhr, Royal Palast; 20 Uhr, International. 16. 2., 20 Uhr, International