pampuchs tagebuch
: Vorwärts und nicht vergessen

„Von Sophokles wissen wir, dass er rund 120 Stücke geschrieben hat – nur neun sind auf uns gekommen.“ Keine ganz schlechte Ausbeute, bedenkt man, dass der alte Dramatiker und Oligarch seine Werke vor fast 2.500 Jahren geschrieben hat. Diese Mitteilung finden wir in einem höchst interessanten Buch, das kürzlich beim C. H. Beck Verlag erschien. Darin erfahren wir auch, dass von den vielen Informationen und Werken, die in unseren Tagen so zusammenkommen, in 2.500 Jahren vermutlich weitaus weniger übrig geblieben sein wird. „The Future of the Past“ lautet der schöne Originaltitel des Buches von Alexander Stille, das bei uns unter dem Titel „Reisen an das Ende der Geschichte“ zu haben ist.

 Es ist hier nicht der Ort, die Reportagen über den Verlust oder die Bedrohung historischer Zeugnisse von Ägypten über China bis Madagaskar zu referieren. Aufmerksamkeit in unserem Zusammenhang verdient Stilles Buch vor allem mit seinem Kapitel über den „Verlust unserer Erinnerung“ und seinem Schlussessay, in dem er über „das Schreiben und die Erfindung der Vergangenheit“ im Laufe der Geschichte sinniert.

 Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie einmal war, und das hat sehr viel damit zu tun, wie sich unser Verhältnis zur Vergangenheit entwickelt. Am Beispiel des amerikanischen Nationalarchivs macht Stille klar, vor welchem grandiosen Dilemma das Informationszeitalter steht. Zwar werden immer mehr Informationen aufgezeichnet, gleichzeitig aber gehen auch immer mehr verloren: Beim heutigen Personalstand würde das Archiv rund 120 Jahre allein dazu brauchen, um die in ihm lagernden Fotos, Videos, Filme oder Tonbänder auf haltbare Medien zu übertragen. Das Problem ist neben der Informationsflut die „Taktfrequenz des technologischen Wandels“. Die Halbwertszeit der Computertechnik liegt bei drei bis fünf Jahren. Wer kann garantieren, dass man in einigen Jahrzehnten heute gespeicherte Daten noch lesen kann?

 Die Gesetze der Sumerer auf Tonziegeln sind bis in unsere Tage nachzulesen, ebenso die Pergamente des Mittelalters. Schwarz-Weiß-Fotos können vielleicht 200 Jahre überdauern, Videobänder höchstens 20. Am verderblichsten ist die sich ständig revolutionierende digitale Speichertechnik. Wer kommt heute noch an seine alten Computerwerke ran – egal ob sie auf der Festplatte des alten 286er im Keller oder auf den großen Floppys gespeichert sind? Die Entschlüsselung der Hieroglyphen ist ein Kinderspiel, verglichen mit dem Problem, Daten lesbar zu machen, die mit einem der hundert Softwareprogramme erstellt wurden, die die Computerrevolution kreierte.

 Aus der Perspektive des Historikers stellt sich die moderne Datenspeicherung immer mehr als programmiertes Vergessen dar. Das hat bei dem vielen Überflüssigen, das heute gespeichert wird, vielleicht auch etwas Tröstliches. Die Frage bleibt: Was machen wir mit den wichtigen Daten und Quellen? In Somaliland hat Stille eine Tradition der mündlichen dichterischen Überlieferung gefunden. Vielleicht sollten wir auch wieder mehr auswendig lernen und rezitieren. Warum nicht mit Sophokles anfangen? Unter www.gutenberg2000.de gibt es immerhin drei seiner Stücke – „Ödipus“, „Antigone“ und „Elektra“ – vollständig und in der Hölderlin’schen Übersetzung.

THOMAS PAMPUCH

ThoPampuch@aol.com