Trümmer zu Zeichen

Der scheiternde Held ist verhärtet, versteckt sich im Kitsch, und wir sollen ihm noch folgen: Spike Lees „25th Hour“ im Wettbewerb hat weder den Willen zur Wahrheit noch den Willen zum Widerspruch

von HARALD FRICKE

Es träumt sich nicht gut in Filmen von Spike Lee. Wo Kino so sehr auf Gerechtigkeit verpflichtet ist, wird jede Andeutung und jede Möglichkeit, dass etwas sich ganz anders zugetragen haben könnte, zu vermintem Gelände. Deshalb war Spike Lee schon mit „Do the Right Thing“ mehr Agit als Pop. Der Wille zur Wahrheit schafft natürlich Probleme: Manchmal schlagen die Ungewissheiten mit gleicher Macht zurück. Dann ist eben auch die Welt, wie Spike Lee sie sieht, nach dem 11. September nicht mehr, was sie vorher einmal war. Plötzlich wird sein New York der Gegenwart von irischen Feuerwehrmännern, jüdischen Lehrern, russischen Mobstern und puertorikanischen Models bevölkert, und man fragt sich verdutzt: Was ist aus Public Enemy und überhaupt der afroamerikanischen Gegenöffentlichkeit zu CNN geworden? Wo waren die Kommentare der Nation of Islam, als Bush zum Kreuzzug gegen das Böse aufrief? Und warum steht ein Filmemacher wie Spike Lee all diesen verpassten Chancen auch bloß sprachlos gegenüber?

Aber der Reihe nach. „25th Hour“ beruht auf einem Buch von David Benioff. Die Story ist definitiv prä-9/11: Ein Dealer geht mit Heroin hoch, wird verurteilt und hat noch einen Tag, um über sein Leben nachzudenken, bevor er auf lange Zeit im Gefängnis verschwindet. Es gibt für ihn jedoch nichts zu bereuen, er hat sich als Kind der Unterschicht mit den Drogen einen enormen Status verschafft, ein Leben in Luxus. Was kümmert es ihn, dass er den Stoff auf Spielplätzen vertickt hat? Soziale Verantwortung kann sich ein Mensch, der nach oben will, nicht leisten, auch das gehört zum amerikanischen Traum.

Bei Spike Lee wird aus dieser Reise ins tough verhärtete Ich eine zäh dahinfließende Zeit des Erinnerns. Monty (Edward Norton) nutzt die Stunden, die ihm in Freiheit bleiben, zwar für ein letztes Essen mit dem Vater, für einen Drink unter Freunden, vor allem aber, um stumm zu leiden. Da ist die Angst des weißen Heteros vor den Männern im Knast, die ihn vergewaltigen könnten; und da ist die Unsicherheit, ob seine Freundin Naturelle (Rosaria Dawson) ihn an die Polizei verraten haben könnte. Solchermaßen in Grübeleien verstrickt, geht der Tag dahin, ohne dass Monty jemanden an sich heranlässt. Mit Tränen kaschiert er die unerschütterliche Selbstsicht – er kann kein schlechter Mensch sein, immerhin rettet er streunende Hunde! Das macht ihn vielleicht zum tragischen „Cool Hand Luke“ à la Paul Newman, den er als Filmposter im Zimmer hängen hat. Doch warum sollten ihm die Zuschauer im Kino bei der Einigelung folgen? Oder in den Kitsch, den er sich von einem anständigen Leben mit Naturelle ausmalt?

Gleichwohl hat Lee Schuld und Sühne mehr oder weniger gut in den Details versteckt. Denn der Niedergang von Monty geschieht vor den Trümmerhaufen des World Trade Centers, der Ort der Katastrophe wird sogar zum Katalysator für die Frage, ob Monty die Bestrafung verdient hat. Sein Kumpel von der Wall Street wohnt direkt neben der Unglücksstelle, schaut auf das Elend und findet – ja, er hat mit Drogen gehandelt, also muss er büßen. Eine These wird daraus nie, eher Verdächtigung: Man ahnt nur Babylon. Das ist für einen sonst so brechtisch die Widersprüche beackernden Filmemacher wie Lee zu wenig. Und der Wahrheit dient es auch nicht.

Heute, 12 und 21 Uhr und morgen, 23 Uhr, Royal Palast