Katastrophal normal

In Washington laufen Jogger zwischen Raketen-Abwehrgeschützen. Plastikfolien und Klebeband finden sich nun in jedem Haushalt. Grüße von der Heimatfront (5)

Kurz vor ihrem großen Auftritt schoss sichdie Friedensbewegung noch selbst ins Knie

Was haben eigentlich amerikanische Soldaten gedacht, als neulich Colin Powell im UN-Sicherheitsrat Saddams Bio- und Chemiewaffendepots an die Wand malte? Vielleicht: „Shit, da sollen wir einmarschieren?“ Sergeant Patrick Atwell von der National Guard hat jetzt vorsorglich sein Sperma in einer Samenbank einfrieren lassen, falls er in der irakischen Giftküche bleibende Schäden davontragen sollte. Und wenn er, „was Gott verhüten möge, gar nicht zurückkommt“, sagte seine Verlobte auf CNN, „bleibt was von ihm übrig. Ein kleiner Patrick, der irgendwann herumläuft.“ Diesen Pragmatismus muss man einfach lieben.

Sergeant Atwell dürfte inzwischen in den Mittleren Osten verlegt worden sein, und wir an der Heimatfront stehen jetzt unter Alarmstufe „Code Orange“: „hohes Risiko von Terroranschlägen“. Danach kommt nur noch „Code Red“: „schweres Risiko von Terroranschlägen“.

Nichts Genaues weiß man wieder nicht, aber in Washington joggen die Menschen seitdem zwischen Raketenabwehrgeschützen, an der Wall Street patrouilliert die Polizei mit Schnellfeuergewehren, und Frank, der Vermieter meiner neuen Wohnung in der 138sten Straße in Harlem, will Vorräte für den Ernstfall anlegen: Konserven, Wasser, außerdem Plastikplanen und Isolierband, um Fenster und Türen gegen Anthrax und Sarin abzudichten. Inzwischen sind auch aufblasbare Plastikschutzkabinen im Angebot. Die aber kosten 5.000 Dollar, was sich in Harlem niemand leisten kann. „Die Lage wird etwas unerquicklich“, meint Frank. Er kommt aus Trinidad und liebt britisches Understatement.

Eigentlich sind die New Yorker so schnell nicht zu erschrecken. Im Radio hat gestern jemand vorgeschlagen, Christo solle gleich die ganze Stadt einpacken, „und wir machen eine Riesenparty unter Plastik“. Meine Nachbarin, Mrs. Gray, überlässt mit ihren 94 Jahren alle Vorsichtsmaßnahmen gegen ABC-Waffen „Jesus, unserem Retter und Herren“. Und die imposant gebauten schwarzen Mamas aus meinem Waschsalon argwöhnen, dass die neue Terrorwarnung einfach die Kriegsstimmung anheizen soll. „Wag the dog, baby, wag the dog.“ Aber wir alle kaufen Isolierband und Plastikfolie – die Kinderlosen mit einem makabren Scherz auf der Zunge, die Eltern mit zusammengekniffenen Lippen. Wenn Kinder nicht mehr U-Bahn fahren wollen, „weil der Tunnel giftig ist“, vergeht einem selbst der Galgenhumor.

Irgendwann ist auch die letzte Theatersubvention weggeholzt – und dann?

Weil mir Plastik und Klebeband allein etwas dürftig erschienen, habe ich mich unter www.fema.org eingeloggt, der Website der nationalen Katastrophenhilfe. Dort wird nach einem Chemiewaffenanschlag das schnelle Wechseln der Kleidung empfohlen. Außerdem vorsichtiges Waschen – vor allem der Augen. „Die sind besonders empfindlich.“ Das hatte ich mir schon fast gedacht. Nach psychologischer Aufmunterung suchend klickte ich auf die „Tipps für Kinder, mit denen ihr euch im Falle eines Terroranschlags besser fühlt“. Da steht: „Katastrophen dauern nicht lang. Bald läuft alles wieder normal.“ Oder: „Wenn du Angst hast, sprich mit deinen Eltern.“ Dass man Leute für solchen Quatsch auch noch bezahlt, lässt nichts Gutes für die Heimatfront vermuten.

Das meiste will ich lieber gar nicht wissen, also halte ich mich morgens, so lange es geht, am Sportteil der New York Times fest. Aber dann landet man irgendwann doch auf der Titelseite und erfährt, dass nur 13 Prozent aller Feuerwehren im ganzen Land für Einsätze nach einem C-Waffen-Anschlag ausgebildet sind. In Seattle kann die Polizei keine Schutzanzüge gegen Bio-Terror kaufen, weil von den dreieinhalb Milliarden Dollar, die George W. Bush nach dem 11. September 2001 Polizisten, Feuerwehrleuten und Sanitätern versprochen hat, bislang kein Cent abgeschickt worden ist. Gut, dass ich nicht in Seattle wohne.

Bloß steht auch New York City vor einem gigantischen Schuldenberg, und überhaupt ächzen und fluchen Gouverneure und Bürgermeister im ganzen Land, weil jede grandiose Steuersenkung à la Bush noch tiefere Löcher in ihre Kassen reißt. Und das alles unter „Code Orange“, wo Polizei und Feuerwehr Sonderschichten fahren müssen. Irgendwann ist auch die letzte Theatersubvention weggeholzt, die letzte Lohnsenkung für Schulbusfahrerinnen herausgepresst. Und dann? Dann geht bald gar nichts mehr, wie im kalifornischen Oakland, einer Stadt mit 400.000 Einwohnern und dem zehntgrößten Containerhafen der Welt. Kurzum: ein durchaus attraktives Ziel für Terroristen. Oakland steckt so tief in den roten Zahlen, dass die Stadt selbst bei „Code Orange“ keine Überstunden für Polizei und Feuerwehr bezahlen kann. Gut, dass ich nicht in Oakland wohne.

Einen Krieg, der das Land womöglich 1,5 Billionen Dollar kostet und bei genauerer Betrachtung wenig mit dem Kampf gegen al-Qaida zu tun hat, halten die Stadträte von Oakland für eine horrende Geldverschwendung. Also haben sie eine Resolution gegen den Irakkrieg verabschiedet, was die Bush-Regierung nicht weiter interessieren müsste, hätten nicht 85 andere Städte das Gleiche getan, darunter Chicago, Philadelphia, Cleveland, San Francisco, Austin und Santa Cruz. Die Heimatfront mag sich in Plastikfolie und Isolierband wickeln, so recht auf Kriegskurs ist sie immer noch nicht. Neulich haben ein paar Frauen in rosa Kleidern eine Veranstaltung mit Laura Bush gesprengt und ein Schild hoch gehalten mit der Aufschrift: „Laura, knöpf dir deinen Kriegstreiber zu Hause vor.“ Die Gruppe nennt sich „Code Pink“. Heute strömen die Kriegsgegner nach New York, morgen demonstrieren sie in San Francisco. Das sind all diejenigen Amerikaner, die die Deutschen derzeit um ihre Regierung beneiden, was in der Geschichte noch nicht so oft vorgekommen ist. In New York wurde die Demonstration verboten. Nur die Kundgebung ist erlaubt. Stehende Demonstranten, entschied das Gericht, seien bei „Code Orange“ ein geringeres Sicherheitsrisiko als laufende Demonstranten.

„Die Lage wirdetwas unerquicklich“, meint Frank, der britisches Understatement liebt

Als ob das Leben nicht schon schwer genug wäre, hat sich die Friedensbewegung vor ihrem großen Auftritt noch schnell selbst ins Knie geschossen: In San Francisco darf der Rabbiner Michael Lerner nicht ans Mikrofon. Einer der Organisatoren, die Gruppe „Answer“, die sich in der Vergangenheit für so illustre Figuren wie Slobodan Milošević und Kim Il Sung stark gemacht hat, akzeptiert keine „Pro-Israel-Redner“. Lerner ist in den USA einer der schärfsten Kritiker Ariel Scharons, aber er ist so vermessen, am Existenzrecht Israels festzuhalten. Wenn allein das auf einer Veranstaltung „gegen den Krieg“ als Zumutung angesehen wird, ist mir nicht mehr klar, für welchen Frieden hier demonstriert werden soll. Gut, dass ich nicht in San Francisco wohne. In New York ist „Answer“ nicht vertreten. Vielleicht verkleide ich mich als das alte Europa und gehe so zur Demo. ANDREA BÖHM