Die gute, alte Schleierfrage

Echte Klischees, also Schnappschüsse, ohne Bourdieusereien: Unter dem Titel „Algerienbilder, eine Wahlverwandtschaft“ sind im Pariser Institut du Monde Arabe Fotografien von Pierre Bourdieu zu sehen, die er von 1958 bis 1961 in Algerien aufnahm

Dementsprechend wird man auch erst mal mit einem Texthammer begrüßtSchon siegen die Tücken der Wissenschaft über die guten AbsichtenDie Soziologenaugen ausstechen, mit denen man die anderen betrachtet

von KATHARINA VOSS

In Frankreich ist dieses Jahr das Jahr Algeriens, auch wenn ja niemand so genau weiß, was das eigentlich bedeutet und was hier gefeiert oder begangen wird. Unter anderem aus diesem Anlass stellt das Pariser Institut du Monde Arabe Fotografien von Pierre Bourdieu aus (dessen erster Todestag ist der andere Anlass), die in den Jahren 1958 bis 1961 in Algerien entstanden sind und die neben dem, was sie eigentlich zeigen, auch ein Dokument der Hinwendung Bourdieus von der Philosophie zu seiner soziologischen Arbeit sind. „Algerienbilder, eine Wahlverwandtschaft“ hat man die Ausstellung getauft, in der das fotografische Material Bourdieus, nach ihrer Veröffentlichung in Camera Austria, erstmalig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, in einem reichlich nüchtern-akademischen Rahmen. Aber man ist hier auch in einem Institut und nicht in einem Museum!

Dementsprechend wird man auch erst mal mit einem Text begrüßt, mit einem Texthammer, wenn man so will. Auf einer Tafel über dem Empfangstisch erklärt Bourdieu selbst den Blick, der hinter den hier ausgestellten Fotos steckt: es ist „der Blick des verständnisvollen Soziologen …, der pflichtgemäß verständnisvolle Blick, der die Ethnologie als Disziplin ausmacht“, und „ein liebevoller Blick auf mein Objekt, von dem ich niemals vergessen habe, dass es sich um eine Person handelte“. – Verdammt! Das eine Subjekt adelt das andere Subjekt damit, dass es es nicht als Objekt behandelt und behandelt es natürlich genau damit als Objekt, und schon wieder haben die Tücken der Wissenschaft über die guten Absichten gesiegt; schon wieder merkt man, dass der eigene (europäische, privilegierte, männliche, intellektuelle und überhaupt Schweine-)Blick noch so wohlreflektiert sein kann – man wird ihn einfach nicht los, kann sich die Soziologenaugen nicht ausstechen, mit denen man die armen und sowieso so anderen „Algerier“ betrachtet. Es ist ein Kreuz! Das ist aber vielleicht auch die „Abwesenheit von Bordieusereien“, die ein Besucher namens Martin im Gästebuch der Ausstellung so super findet. „Der Soziologe Bourdieu war uns schon bekannt. Nach dem Besuch der Ausstellung fanden wir den Fotografen Bourdieu fast noch besser! Echte Schnappschüsse ohne Bourdieusereien!“ Das liest sich ein bisschen komisch, weil Schnappschuss auf Französisch das gleiche Wort wie Klischee ist. – Klischeekritik gibt es dann auch, von jemandem, der als „ein in Bourdieu verliebter Kabyle“ signiert hat und aller Liebe zum Trotz beklagt, dass Bourdieus soziologische Arbeit über Algerien in Stereotypen über die „ursprünglichen“ Lebensformen der Berber stecken bleibe.

Die Kuratoren haben die Fotografien thematisch angeordnet: Krieg und Kolonialgeschichte; die Kabylei; urbanes Straßenleben mit den bekannten Zeichen für Armut (Schmuddelkinder mit schlechten Zähnen) und Arbeitslosigkeit (viele Männer in Cafés, tagsüber); das Landleben (trockener Boden, schwer beladene Esel und altertümliches Gerät); die Frauen. Auf einer überwältigenden Mehrzahl der Fotos sind weiß gewandete und verschleierte Frauen zu sehen, die entweder (auf den Stadtbildern) eine dem Schleier scheinbar diametral entgegengesetzte Tätigkeit ausüben (Mopedfahren) oder (auf den Landbildern) sich sozusagen archaisch verhalten (mit Wasserkrügen auf dem Kopf staubige Pfade entlangwandeln). Bilder aus dem Kriegs- und Nachkriegsalgerien, das Bourdieu in dem 1959 erschienenen Buch „Sociologie de l’Algérie“ beschreibt: dessen Fragilität, dessen Schweben zwischen alten und neuen und Interimsstrukturen, das Ungleichgewicht zwischen den technisch-ökonomischen und den sozialen Veränderungen, die innere (wirtschaftliche, kulturelle, soziale etc.) Gespaltenheit der Gesellschaft, die Armut, die Landflucht, die totale Entfremdung zwischen den ehemaligen Kolonialherren und Kolonialisierten.

Das ganze Bourdieu’sche Drama, das ganze Problemknäuel, kommt in der guten, alten Schleierfrage zum Tragen, einer Lieblings-Achillessehne der Eurozentrismusdebatte – die Frage, wo keiner mehr weiterweiß. (Was wäre ein Europa ohne die Schleierfrage?) Bourdieu vertritt eine Art partisanenmäßige Schleierromantik. Der Schleier sei eines der wichtigsten Symbole eines traditionellen Wertesystems, zu dessen ursprünglicher Funktion (die er unkommentiert lässt) im Kolonialkontext eine neue Funktion hinzukommt: der Schleier als Verteidigung der Intimität, als Schutzschild gegen die Eindringlinge. Die algerische Frau verweigere sich mit dem Tragen des Schleiers jeglicher Art von auf Gegenseitigkeit beruhender Beziehung mit den Europäern und werde damit zum Pars pro Toto einer unterdrückten Gesellschaft, die Widerstand leistet, indem sie sieht, ohne gesehen zu werden, betrachtet und in den anderen eindringt, ohne sich betrachten zu lassen, und ohne dem anderen ein Eindringen in diese Gesellschaft zu gestatten. In der Buchhandlung des Institut du Monde Arabe kann der Blick dann an dem autobiografischen Roman einer Latifa hängen bleiben, deren Nachname (und wahrscheinlich echter Vorname) geheim bleiben muss. Der Titel des Romans lautet „Das gestohlene Gesicht“, und das Cover zeigt natürlich eine total verschleierte Frau. Partisanenromantik, Exotismus, Eurozentrismus, Hilfe! Gibt es hier irgendwo einen rettenden Theorieanker?

Nicht dass es die wirklich komplizierten Fragen beantwortet, aber Bourdieu kommentiert sozusagen für uns aus seinem Grab heraus solche sekundären sozial-ästhetischen Fotoprobleme wie bepackte Esel, ruinöse Kindergebisse, verlassene Baustellen mit Lehmhütte davor. In seinem Buch über den sozialen Gebrauch der Fotografie bezeichnet Bourdieu die Fotografie als die am strengsten geregelte Kunstform, unterworfen einer „frappierenden Regelhaftigkeit, nach der die kollektive Fotografierpraxis sich organisiert: wenige Tätigkeiten sind so stereotypisch und so selten anarchistisch-individualisierenden Änderungsabsichten unterworfen. Mehr als zwei Drittel der Fotografen sind Teilzeitkonformisten …“ So bezeichnet Bourdieu die Fotografie als Ideogramm: individuelle, zufällige Details müssen auf eine zweite, hintergründige Ebene ausweichen. Die rein symbolische Motivwahl sei wichtiger, denn nur so sei ein langfristiger, ernsthafter symbolischer und ästhetischer Wert verbürgt. Die Fotografie, das sei das, woraus das Leben verschwinden müsse.

Bourdieu meinte eigentlich eher die Männer, die ihre frisch gebackene Angetraute auf der Hochzeitsreise in Paris vor dem Eiffelturm fotografieren. Aber vielleicht ist ein auch noch so reflektierter Sozialwissenschaftler diesen Gefahren der Fotografie ausgesetzt, vielleicht ist das hier aber auch eine Sache der Amateurhaftigkeit. Letzte Fragen: Wie kann man Armut daran hindern, auf Fotos pittoresk zu sein? Was macht man, wenn die Wirklichkeit wie ein Klischee aussieht? Was ist nun mit dem Schleier?

Zur Erholung gibt es eine prachtvolle Roh-und-Gekocht-Tabelle, ein Original aus Bourdieus Algeriennotizen. Auf den Seiten fünf und sechs wird die (wohl kabylische) Ordnung für Männerarbeit und Frauenarbeit zusammengefasst. Die Männer wachen über das Feuer, die Frauen schmeißen die Küche – das kann kein Erstaunen hervorrufen. Unerwarteter ist, dass der Mann näht, er näht auch die Kleider seiner Frau (die Randbemerkung erklärt es: „Nadel = maskulin“), und die Frau fegt die Hütte aus, während für den Mann anscheinend ein Ausfegetabu besteht. Exklusiv dem Mann vorbehalten und für die Frau mit einem Tabu belegt ist wiederum das Rütteln von Obst- und Nussbäumen. Wer den Kram dann anschließend aufsammelt, bleibt ein Geheimnis. Das ist allerdings ein Problem, mit dem man zurechtkommen kann.

Noch bis 23. März; Pierre Bourdieu, „Images d’Algérie“, hrsg. von Franz Schultheis bei Actes Sud, 25 €