Von den Wundern des Wissens

Die Wissenschaften haben die Welt keineswegs so kontinuierlich entzaubert, wie das Historiker gern darstellen. Lorraine Daston und Katherine Park zeigen, dass der Weg vom Staunen zum Wissen über allerlei wundersame Ordnungssysteme führte

Jede noch so harmlose Fliege mutierte unter dem Mikroskop zum Naturwunder

von REBEKKA HABERMAS

Ob Menschen mit vier Armen, schlichte Ameisen oder Hunde, die Worte bellten – all das erregte im 18. Jahrhundert die forschende Neugier der wissenschaftlichen Akademien. Sie betrachteten diese Objekte als Wunder der Natur. Im 17. Jahrhundert konnte man seltene Pflanzen, besonders wertvolle kunstgewerbliche Arbeiten, exotische Tiere oder eigenwillig gestaltete Fossilien in den Wunderkammern bestaunen und vielleicht auch erforschen. Kometen, Eisregen, Menschen mit vier Köpfen und Ratten ohne Beine wiederum galten im 16. Jahrhundert als wundersame Objekte, denen man mit Furcht und Schauern begegnete. Und im Mittelalter waren es die in Afrika oder Indien vermuteten und teilweise sogar mit eigenen Augen gesehenen Tiere, die den Status eines Wunders für sich beanspruchen konnten.

So unterschiedlich die Vorstellungen vom Wunder und der Umgang mit ihm waren, so verschieden waren auch die Konzeptionen von der Ordnung der Natur, als deren Ausdruck oder als deren Abweichung alle Formen des Wunderbaren galten. Davon zeugen die vielen Beispiele aus der Geschichte der Wunder, die Lorraine Daston und Katherine Park in ihrem faszinierenden Buch „Wunder und die Ordnung der Natur“ zusammengetragen haben. Doch diese in bester Wissenschaftsprosa geschriebene und wunderbar illustrierte Studie weiß von mehr zu berichten – von Dingen, die gerade im Zeitalter des Klonens und der rapide sinkenden Etats der kulturwissenschaftlichen Fächer aufhorchen lassen. Denn: Die Geschichte der Naturforschung hat zuweilen recht eigenwillige Wege genommen, und diese Wege verliefen keineswegs geradlinig. Ganz zu schweigen davon, dass sie in den gängigen Termini des Entzauberungs- und damit Rationalisierungsprozessses beschrieben werden könnten.

Schlicht schieres Stauenen erregte noch im Hochmittelalter das, was man unter Wundern verstand – sei es ein Magnet, die Scharfsinnigkeit der Delfine, eine ägyptische Rasse, deren Angehörige zwölf Fuß groß wurden und sich in Störche verwandeln konnten, oder Eisregen, bestimmte Mineralien und Zwerge. So angemessen die Reaktion des Staunens den Zeitgenossen auch insofern erschien, als sie eine ehrfürchtige Reaktion auf die göttliche Schöpfung darstellte, geriet doch bereits damals genau dieses Staunen in die Kritik. Scholastiker wie Adelardus von Bath sahen im Staunen nun nicht länger ein sinnfälliges Zeichen der Frömmigkeit, sondern schlichte Unwissenheit. Unter Rückgriff auf arabische Gelehrsamkeit und auf Aristoteles und Platon begannen diese Scholastiker das Staunen zu verachten und das Streben nach sicherem Wissen zum neuen intellektuellen Habitus zu erklären. Wobei dieses Streben nach Scientia gleichsam eine Gratwanderung war, musste doch jede Neugierde vermieden werden, da kein Geringerer als Augustinus höchstselbst diese in die Nähe von Lust, Fürwitz und Stolz gestellt hatte.

Deutet schon diese Gratwanderung an, dass hier nicht unbedingt eine lineare Entwicklung hin zu Entzauberung und Rationalisierung zu beobachten ist, so zeigen die ab dem 15. Jahrhundert massenhaft gedruckten Flugblätter, auf denen sechsköpfige Kälber und Blutregen mit Monstern und anderen Wunderarten um die Wette eifern, eine weitere, wenig zielgerichtete Veränderung im Wunderkonzept und im Umgang mit den zahlreichen Wunderarten. Die Monster des 15. Jahrhunderts erregten nämlich weder Staunen, noch lösten sie Wissbegierde aus. Vielmehr machten sie Angst, da sie – so die zeitgenössische Deutung – Vorzeichen göttlichen Zorns waren. Im 17. Jahrhundert wurden Wunder auf wieder andere Art betrachtet. Nun wollten Gelehrte wie Francis Bacon die gleichen Monster, die kurz zuvor noch Furcht ausgelöst hatten, ausschließlich unter Nützlichkeitsaspekten betrachten. Statt sie als Boten göttlichen Zorns hinzunehmen, sollten sie als Teile der natürlichen Ordnung genauestens erforscht werden. Besonders geeignet für diese Form der Wunderbetrachtung schienen die gelehrten Gesellschaften, in denen man gleichsam den neuen empiristischen Habitus des interesselosen Sammelns einübte und alle weiterführenden Erklärungen vermied.

Faktisch hieß das: Jede noch so harmlose Fliege mutierte unter Zuhilfenahme des mikroskopischen Blicks zum Naturwunder. Gleichzeitig wurde eine kaum noch überblickbare Menge von gold schimmernden Kinderzähnen, achtbeinigen Kühen, im Dunkeln glühenden Edelsteinen und Affenmenschen in den einschlägigen wissenschaftlichen Journalen eingehend dargestellt und gewürdigt – mit großer Akribie, zur Schau gestellter Ernsthaftigkeit und ohne jedwede gefühlsmäßige Regung. Jenseits der nüchternen Orte neuer Wissenschaftlichkeit riefen vergleichbare Wunder eher Abscheu hervor. Erinnert sei nur an Voltaires Schilderung einer Frau mit vier Brüsten und einem Kuhschwanz, die, auf dem Jahrmarkt ausgestellt, nacktes Grauen erregte.

Lässt sich also vom Mittelalter zur frühen Neuzeit keine klare Entwicklung hin zur Verwissenschaftlichung beobachten, so lässt sich auch die wohl entscheidende Veränderung des Wunders zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert nicht in Termini Max Webers beschreiben. Und doch änderte sich genau zu diesem Zeitpunkt Grundlegendes: Die Rolle des Staunens wurde zwiespältig. Zwischen ein Genug an Staunen und ein Zuviel des Staunens trat die Verblüffung, die – so die insbesondere dem so genannten Volk gegenüber sehr kritischen zeitgenössischen Intellektuellen – die Neugier nicht anstachelte, sondern erstickte. Diese Verblüffung wurde als vor allem populäres Phänomen aufgefasst und abgewertet; gleichzeitig wuchs unter Intellektuellen die Verachtung für das Wunder an sich (obschon Leibniz’ Bericht von einem Hund, der 30 Worte bellen konnte, nach wie vor von wissenschaftlichen Journalen gedruckt wurde). Das Staunen bekam in der Naturphilosophie den Beigeschmack der destruktiven Kraft des Schwärmerischen und des Aberglaubens.

Das Streben nach sicherem Wissen wurde zum intellek-tuellen Habitus

Dieser Prozess, so Daston und Park, war keiner innerhalb in sich geschlossener Wissenssysteme, sondern eine Entwicklung, die sich im politischen und religiösen Raum der Gesellschaft abspielte. Damit soll mit dem klassischen Narrativ der Wissenschaftsgeschichte aufgeräumt werden, dass es die Wissenschaften waren, die das Wunder zerstörten und die das Staunen in Abscheu verwandelten.

Wie diese Felder des Gesellschaftlichen, die das Wunder so nachhaltig änderten, beschaffen waren und in welchem Zusammenhang sie zu welchen Wissenssystemen standen, bleibt bei Daston und Park etwas nebulös. Da heißt es, dass die im 17. Jahrhundert zunehmenden Religionsstreitigkeiten und Bürgerkriege eine gesteigerte Empfindsamkeit für die akuten Gefahren des Staunens bewirkt hätten. Diese Geißelung des Staunens und Schwärmens sei mit einer Neukonzeptionierung des Volks einhergegangen. Denn es soll ein Wesen gewesen sein, das seinen Sinnen und Begierden hilflos ausgeliefert ist. Falsch ist das sicherlich nicht – aber genauer hätte man es gerade hier im letzten Kapitel schon gerne gewusst, wo plötzlich ohne Vorwarnung auf Felder des Politischen und Religiösen verwiesen wird, die bis dato kaum oder nur am Rande eine Rolle gespielt haben.

Doch: So unklar die Verschränkung der Ebenen des Wissens mit denen des Politischen und Religiösen bleibt und so stark auch in dieser Wundergeschichte die Epochenschwelle 1750 der entscheidende turning point in der Geschichte der Ordnung der Natur bleibt – was vielleicht auch nur deshalb so überzeugend gelingt, weil das 19. Jahrhundert eben nicht mehr in den Blick genommen wird –, Daston und Park entzaubern die lineare Erzählung von der zunehmenden Entzauberung der Welt, indem sie etwa den frappierend kaltblütigen „Empirismus“ des 13. Jahrhunderts gegen die „Wundergläubigkeit“ des 17. ausspielen. Zudem führen sie in Wunderwelten ein, die gleich Wunderkammern alle Ordnungen des Natürlichen als höchst wunderliche Konstruktionen entlarven. Damit liefern sie gleichsam den vielleicht gelehrtesten, in jedem Fall einen der spannendsten Kommentare zu aktuellen Debatten über den Status von Naturwissenschaften.

Lorraine Daston/Katherine Park: „Wunder und die Ordnung der Natur“, aus dem Englischen von Sebastian Wohlfeil und Christa Krüger, 560 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002, 29,90 €