Ein bisschen Sehnsucht nach Bullerbü

Susanne Mayer will eine neue Wertedebatte führen, in der die Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft zum höchsten politischen Maßstab erkoren wird. Denn: Eine kindergerechte Gesellschaft wäre selbst für Kinderlose besser

Es ist ein eigenartiges Phänomen: Vor einem Jahrzehnt noch fielen Bücher zur Kinderfeindlichkeit in Deutschland leicht in die Kategorie „Müttergejammer“. Doch inzwischen ist das Thema politikfähig. Die zubetonierte Kindheit in den Städten wird beklagt, der Konsumterror, die Verarmung kinderreicher Familien und die niedrige Geburtenrate, mit der die Gesellschaft ihre Renten gefährdet. Es scheint, als habe das Thema Kinder stellenweise sogar das Thema Umwelt überflügelt.

Nach Büchern, die den „Erziehungsnotstand“ die „Erziehungskatatastrophe“ ausriefen oder „S.O.S. Familie“ funkten, ist „Deutschland armes Kinderland“ von Susanne Mayer dafür ein neues Beispiel.

Mayer hat Studien gewälzt, sich in anderen Ländern umgesehen und mit Müttern und Vätern gesprochen. Fazit: In Deutschland herrscht eine „Kindervergessenheit“, eine „soziale Sterilität“. Die Sache mit den Kindern „haben wir vermasselt“ so Mayer. Am Beispiel der skandinavischen Länder zeigt sie, dass es auch anders gehen kann: In Norwegen beispielsweise werden Eltern und Kinder stärker gefördert, der Trend geht dort zur Dreikinderfamilie.

Die politischen Forderungen der Autorin sind nicht ganz neu: Sie verlangt hohe Kindergrundfreibeträge in der Steuer, einen Familienlohn, ein Familienwahlrecht. Originell ist der Vorschlag einer subventionierten „Elternteilzeit“, eines 6-Stunden-Arbeitstags, für den es ähnlich wie bei der Altersteilzeit Lohnzuschüsse geben soll.

Das Buch will aber mehr sein als nur eine Aufzählung politischer Masßnahmen. Es gehört zu einer neuen Wertedebatte, in der die Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft zum höchsten politischen Maßstab erkoren worden ist. Mayer bewegt sich zwischen den Fronten ökologischer und feministischer Debatten und setzt sich dabei bewusst der Gefahr aus, dem wertkonservativen Lager zugerechnet zu werden.

So rügt die Autorin und Zeit-Redakteurin beispielsweise die Ökosteuer, denn diese benachteilige Eltern, die ihre Kinder stundenlang durch die Gegend chauffieren müssen.

Sie ist dafür, dass Mütter einen Familienlohn bekommen sollen, wenn sie sich zu Hause um den Nachwuchs kümmern. Die sozialdemokratische Befürchtung, dass dieser Lohn aus den Frauen Heimchen am Herd mache, lässt Mayer nicht gelten. Schließlich müsse man vom „mündigen Bürger“ ausgehen, der (bzw. die) sich frei für oder gegen ein Hausfrauendasein entscheiden könne.

Alles, was das Kinderkriegen und das Kinderhaben fördert, ist gut. Alles, was Kindern und Eltern das Leben schwer macht, gilt es anzuprangern. In Mayers Plädoyer für eine „neue Familienkultur“ vereinigt sich dabei Kulturkritik mit ein bisschen Sehnsucht nach Bullerbü.

Vereinzelung, Ego-Gesellschaft? Von allem hätten wir etwas weniger, wenn das Zusammensein mit Kindern wieder in das Zentrum der Lebensformen rücken würde, glaubt Mayer. „Familie kann sogar gesund machen.“ Die Netzwerke sollten dabei nicht nur aus Eltern und Kindern, sondern auch aus Verwandten, Nachbarn, FreundInnen und Patentanten und -onkeln bestehen.

Öde Stadtarchitekturen, Leistungsgesellschaft mit 50-Stunden-Woche? Auch das wäre besser, wenn die Gesellschaft kind- und elterngerecht umgebaut würde, so Mayer.

Manchmal nervt die Streitschrift auch ein bisschen. Wenn Mayer beklagt, dass Eltern „stumm und wehrlos“ sind, dass das Leben mit Kindern ein „täglicher Hindernislauf“ ist und Mütter in einer „Domäne der Nichtbeachtung und Missachtung“ leben, dann denkt man als ebensolche schon mal: Na ja, so schlimm ist es nun auch wieder nicht! Trotzdem hat Mayer Recht, wenn sie eine Art ideologischen Brückenschlag zwischen Eltern und Kinderlosen versucht. Eine kindgerechte Gesellschaft, so ihre These, wäre besser für alle. Tatsächlich gewönne das Thema mehr politische Energie, wenn sich auch Nichteltern angesichts der Kinderfeindlichkeit unbehaglich fühlen würden, und zwar nicht nur wegen der zu erwartenden Rentenprobleme.

BARBARA DRIBBUSCH

Susanne Mayer: „Deutschland armes Kinderland. Wie die Ego-Gesellschaft unsere Zukunft verspielt“, 260 S., Eichborn, Frankfurt am Main 2002, 17,90 €