Der Spiderman der Kunst

Picassos letzter Sohn zieht sich aus bis auf die Unterhosen: In Karlsruhe zeigt das Museum für Neue Kunst eine große Retrospektive mit Arbeiten von Martin Kippenberger. Er hätte in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert. Ein Anlass für weitere Ausstellungen in Braunschweig und Tübingen

von GEORG PATZER

Es kann nur einen geben – einen Picasso. Auch Martin Kippenberger musste das einsehen. Wenn auch ungern. Weshalb er Picassos Witwe in einer Reihe von Bildern malte, „Paintings Pablo Couldn’t Paint Anymore“ (Bilder, die Pablo nicht mehr malen konnte), weil der schon tot war. Und nach einem Foto, auf dem Picasso im reifen Alter mit reifem Bauch und Hund und Sonnenschirm zu sehen ist, bekleidet mit einer etwas überdimensionierten Unterhose, hat sich auch sein letzter Sohn Kippenberger in großer Unterhose und einem ausladenden Bauch selbst porträtiert. Das Gesicht zum Spiegel gewandt, aber im Schatten verdunkelt, mit zwei riesigen Luftblasen daneben; auf einem anderen Bild in schmerzhaft gekrümmter Haltung, wie in einer tiefen Verbeugung, mit einem leichten Lächeln. Picasso ist, das deutet er an, unerreichbar, man kann sich nur noch in ihm spiegeln und ihn, wie alle anderen Ikonen, zitieren. Etwas grundlegend Neues, wie Picasso es noch schaffen konnte, ist aber nicht mehr in Sicht. Und so zitiert Kippenberger und trifft mit seinen stilistisch vielfältigen Bildern sowohl den ironischen Spaß am Zitatespiel als auch die Tragik des zu spät gekommenen Künstlers.

In diesem Monat wäre er 50 Jahre alt geworden, für das Karlsruher Museum für Neue Kunst (MNK) im ZKM war der Geburtstag willkommener Anlass für eine große Retrospektive. Auch andere Museen und Galerien spielen mit, ab April werden Kippenbergers Zeichnungen etwa in der Kunsthalle Tübingen gezeigt, in Braunschweig geht es um Multiples, Druckgrafiken und Künstlerbücher. Die Zeichnungen fehlen also in Karlsruhe. Zum Glück, möchte man sagen, denn trotz des vielen Platzes in den beiden Lichthöfen der ehemaligen Munitionsfabrik ist die Ausstellung mit fast 600 Werken, Malerei, Installationen, Skulpturen und Plakaten, reichhaltig bestückt, wobei vieles überhaupt noch nie gezeigt wurde.

Kippenberger verfügte von Anfang an über eine stupende Technik und eine durchdringende (selbst)ironische Intelligenz. Seine Ausgangsfrage war: „Was kann der Künstler noch machen, wenn alles schon gesagt wurde?“ Seine Antwort, so der Kurator der Ausstellung, Ralph Melcher, war „nicht die Auswahl, sondern das kompromisslose Allesfressen“, war nicht die Reduktion, nicht der Verzicht, sondern die Aneignung aller Stile. Deutlich werden in Karlsruhe also auch wieder die vielen überraschenden, feinrissigen Stilbrüche.

Eigentlich hat Martin Kippenberger immer rebelliert, vor allem gegen Attitüden, auch seine eigenen, denen er selbst nicht immer entfliehen konnte. Sich selbst sah er dabei nicht nur als Picassos Vollender, sondern auch als „Spiderman“ der Moderne, wie er ihn als Skulptur in ein winziges Atelier gezwängt hat, immer startbereit, in das Bilddes Superhelden gepresst, der die Welt rettet, aber doch nur ein leeres Gestell mit einer Maske ist. Das ist das „2. Sein“, das der Karlsruher Ausstellung den mehrdeutigen Titel gibt. Immer wollte Kippenberger „der Zweite sein“ und in seinem zweiten Sein den Künstler spielen. Oder er malte sich selbst in Max-Ernst-Manier oder in den heroisch-pathetischen Posen von Géricaults „Floß der Medusa“: verzerrt, rot, roh und blutig, kannibalisch ausgeweidet. Es ist wie eine Parabel auf den Kunstbetrieb, den Kippenberger selbst auch nicht überlebte. Oder er zeigt in „Hand-Painted Pictures“ Ansichten und Einsichten von sich, zwischen Hyperrealismus, Konzept und Comic, zeichnerisch Figurativem und Feldmalerei, immer alles hin und her kippend, wie schon die Schriften im „Spiderman-Atelier“, die „Koffein“, „under“, „red wine“ und „haschisch“ spiegelschriftlich und kopfunter so lange aufeinander prallen lassen, bis man nicht mehr weiß, ob es „pot“ oder „top“ heißen soll.

Es scheint, als habe Kippenberger für vieles eine gültige Antwort gegeben. Jetzt wird er als Anreger auch für die neue oder neu entdeckte Tendenz vieler Maler, zum Ölbild zurückzukehren, gehandelt. Aber Kippenberger war vielfältiger. Auch auf den Iconoclash, den das ZKM letztes Jahr ausprobierte, hat er schon Jahre zuvor mit seinem „Heavy Burschi“ geantwortet, einem Container voller zerschnittener, zerstörter Bilder, übereinander getürmt zu Abfall und einem neuen Werk. Auf die museale Zumutung des institutionalisierten Ausstellungsbetriebs hat er reagiert, als er auf der griechischen Insel Syros in einer verlassenen Fabrikruine das Museum of Modern Art Syros (Momas) gründete. Sich selbst setzte er als Direktor ein, lud Künstler ein, die ihre Werke selbst auswählen, aber nicht ins Museum bringen durften, es gab Einladungskarten und den ganzen düpierenden Apparat, der dazugehört. Deutlich sieht man diese zwiespältige Haltung auf dem Bild „Im Atelier“, auf dem eine stark an Seyfried erinnernde Comicfigur (mit Baskenmütze) seine Kunst einfach auf die Leinwand kotzt. Auch das ist vordergründig witzig, hintergründig tragisch und auf den dritten Blick eine treffende, weil schillernde Analyse des Künstlers und des Betriebs, aus dem es keinen Ausweg gibt als den Tod.

Auf das Internet hat er mit dem Plan eines weltumspannenden U-Bahn-Netzes geantwortet, statt der Begegnung virtueller Individuen wollte er eine körperliche Begegnung und baute sogar einen Belüftungsschacht und den Eingang zur U-Bahn. Als man den ausstellen wollte, passte er nicht durch die Tür, Kippenberger ließ ihn mit einem Bagger so lange stauchen, bis er durchging. Auch das wie eine Antwort auf den sich als Schamanen gerierenden Übervater Beuys, dem man nicht einmal die Fettecke wegräumen durfte. Kippenberger erlebte die Realität als so fließend, dass auch seine Werke nicht immer festgelegt museal waren, gegen Beuys sagte er: „Jeder Künstler ist ein Mensch.“

Ausstellungstechnisch bereitet Kippenberger keine Schwierigkeiten, fast organisch ergibt sich sowohl ein chronologisches als auch ein thematisches Fadenknäuel mit unverhofften Durchblicken in der offenen Architektur des MNK. Zwanzig Jahre werden so zu einer anregenden, weil vieldeutigen Schau gebündelt. Denn Kippenberger hatte nur zwei Jahrzehnte, in denen er sich auf alles stürzte, was ihn interessiert hat, er hat in diesem Sinn kein Oeuvre hinterlassen, aber viele Werke.

Dass dieser mit dem Genie kokettierende Künstler immer noch so eindringlich wirken kann, ist dem Schillernden und gleichzeitig haargenau Treffenden seiner Bilder zu verdanken, seiner zwischen surrealistischem Spaß und tragischem Ernst sich bewegenden Ironie, die gleichzeitig ein Leiden an dem eigenen Ungenügen (eben „Zweiter sein“) und ein erfülltes Aufgehen in der Künstlerrolle (das „zweite Sein“) ist.

Bis zum 27. April, Katalog 29 Euro