Flucht in die Vieldeutigkeit

Groove, Hermeneutik und samtpfotene Störgeräusche: Der Berliner Elektronikmusiker Jan Jelinek hat mit „la nouvelle pauvreté“ ein ungewöhnlich heterogenes Pop-Album aufgenommen

von HARALD FRICKE

Frontstadt, so sagte man früher zu Berlin, meinte damit natürlich den Westen und war stolz auf seine Extreme. Zumindest in Sachen Musik. Lauter, schneller, darker, härter ging es beim Atonal-Festival zu, Industrial war das Zauberwort für elektronische Sounds. Noch in den Zeiten von Techno wäre jeder Raver gesteinigt worden, der sich die Zukunft des Nachtlebens als einen rührigen Marktplatz für allerlei mittelständische Entertainmentunternehmen ausgemalt hätte. Ökonomische Krisen wären undenkbar gewesen, schließlich galt: Fuck das Kapital und fuck auch das System.

Prenzlauer Berg, im Februar 2003: Auf den Straßen klebt ein kackbrauner Matsch aus zerschredderten Chinaböllern von Silvester, den die Stadtreinigung noch immer nicht beseitigt hat. Auch im Paradebezirk für die Zugewinngemeinschaft der New Economy ist das Geld ausgegangen; die aufgebrezelten In-Lokale stehen leer, die Start-up-Profiteure sind weitergezogen. Ist das der Abstieg in die „nouvelle pauvreté“, auf die Jan Jelinek mit seiner neuen CD anspielt?

Wir sitzen in einem Café am Kollwitzplatz, und Jelinek, grüner Parka und hornumrandete Retro-Brille, findet die Parallele erst mal amüsant, erklärt dann aber, dass diese Zuschreibung nur zum Teil zutrifft: „Ich wollte die Bedeutung bewusst offen lassen, schließlich klingt darin auch der Paradigmenwechsel in der Mode an – vom prunkvollen und exzessiven Stil eines Yves Saint Laurent zu den Grautönen einer Ann Demeulmeester mit ihren einfachen Nähten und Schnitten. In der Musik machen wir dagegen den Wechsel vom Minimalismus zurück zu den Popsongs der Achtzigerjahre durch.“

Offenbar ist das Bezugssystem, nach dem Jelinek Songtitel und Referenzen auswählt, vielschichtig kodiert und idiosynkratisch angelegt, ganz nach Art eines bohemistischen Connaisseurs. Wer bei einem Track wie „Davos S“ nur an Skisport und Weltwirtschaftsgipfel denkt, hat nicht mit der Kunstgeschichte gerechnet, die unter dem gleichen Namen auch ein Bild von Gerhard Richter bereithält. Keine Frage, Jelinek achtet sehr auf solche Finessen, wenn es um Breaks und Beats geht. Jedes Zitat, mit dem er auf seinen Platten arbeitet, ist mikrofein am Computer ziseliert worden, bevor es als Loopschnipsel in die weiten Flächen des Jelinek’schen House of Sounds eintaucht. Dass er beim Programmieren eine Vorliebe für Filmmusik aus den Sechzigerjahren hat, kann man im Endprodukt bloß noch erahnen.

Bei Jelineks Auftritt während der Transmediale in Berlin war auf den Dias, die an die Wände projeziert wurden, noch zu lesen, dass er Barry White, Isaac Hayes oder John Coltrane besonders schätzt; zu hören war dann doch eher ein sich langsam hochschraubender Rhythmus, in dem sich die gesampleten Helden wie ein Zirpen auf der Wiese anhörten. Hommage ist, was man zärtlich macht.

Getanzt wurde trotzdem wenig, irgendwo am Rand, im Dunkeln hinter den Boxen und meist schüchtern. Zu Glam und Ekstase taugt die Musik von Jelinek noch immer nicht so gut wie der Electroclash, bei dem momentan alle mitmüssen. Nebenbei hat man sich auch von der Idee verabschiedet, dass Musik im Club zuallererst anonymes Material ist, das der DJ auf dem Plattenteller formt. Autoren sind wieder gefragt, Popstars ebenfalls.

Dagegen sei nichts einzuwenden, sagt Jelinek, „das Gerede vom Antiautor hat ja nur noch mehr Mythen geschaffen. Wenn Moodyman oder Theo Parrish auf einer verdeckten Bühne incognito auftreten, dann kann man gerade bei ihnen ja Popstarwünsche hineinassoziieren, weil sie einem mit ihrer Verweigerung von Images so viel Projektionsfläche geben.“

Ähnlich könnte es sich mit der Rückkehr zum Sound der Achtzigerjahre verhalten: Offenbar ist elektronische Musik an dem Punkt angelangt, wo die eigenen Innovationsschübe zur Geschichte geworden sind. Damit scheint die Begrenztheit auf, mit der sich Stile und Genres bislang abgeschottet hatten. Deshalb interessiert Jelinek, was passiert, wenn man diese Verhältnisse nicht zum Tanzen, sondern zum Sprechen bringt: „Warum nicht Musik als Musik im Rahmen von Musik thematisieren?“

Tatsächlich spiegelt die neue CD seine Rolle als original thinker wieder, der mit Sinn für Understatement den Willen zur Weltwichtigkeit von Techno kommentiert: Plötzlich werden Console und Co. als frickelnde Handwerkerfraktion im Musikexpress gefeiert, gehören auch bei Wolfgang Voigt die Produktionskosten und die Zahlen der verkauften Tonträger zum täglichen Business. Willkommen im Club der Rock-’n’-Roll-Rentner?

Für Jelinek sind solche Prognosen nur eine kulturpessimistische Nörgelei, die er gleich wieder ironisch auskontert: Selbst wenn elektronische Musik heute als Schmiermittel zur Aufhübschung für alle möglichen Events herhalten muss, „ist das doch das Brillante daran, dass es eine Jugendkultur gibt, die sich nicht um die entsprechenden Distinktionen von Jugendlichkeit schert“. Da ist noch immer Begeisterung am Werk, so wie sie Rainald Goetz für die Love Parade und die Heilsbotschaft des alles einenden Beat empfunden hat. Wenn es heute Probleme mit der Definitionsmacht gibt, dann liegen sie vor allem an der eigenen Haltung, auch bei Jelinek: „Es ist ja meine Entscheidung, wenn ich weniger auf In-Your-Face-Tracks setze und mehr Wert auf Sensibilität lege. Aber natürlich habe ich auch nichts gegen Melodien für Millionen, ich hätte auch gerne einen Nummer-eins-Hit.“ Deshalb hat er echte Leckereien gesamplet, die von Burt Bacharach bis Lalo Schifrin reichen, „aus Sehnsucht nach dem großen Auftritt! Die Art, wie hier Sound perfekt inszeniert wird, hat auch meine Wahrnehmung von Musik verändert. Vor zehn Jahren hätte ich solche Sachen sicher noch verteufelt.“

Mit dem Chartserfolg wird es dennoch dauern. Selbst Fans von Jelineks „Loop-finding Jazz Record“ aus dem letzten Jahr oder den Click-’n’-Cut-Disco-Tracks, die er unter dem Namen Farben aufgenommen hat, finden seine Entwicklung auf „la nouvelle pauvreté“ mehr als sperrig. So ist das Stimmengewirr auf „Trust The Words Of Stevie“ oder dem mehr gehauchten „A Waste Land“ zum Finale zwar in einen angenehmen Teppich aus Bassfrequenzen und E-Piano-Gewaber eingebettet, aber nach ein paar Takten fragt man sich schon, was da zwischen lauter wohlklingendem Rauschen eigentlich erzählt wird. Für Jelinek ist diese Störung, die sich auf Samtpfoten heranschleicht, wichtig, ein Grundmerkmal seiner Musik, die mit einer „verunsichernden Einfachheit“ Groove und Hermeneutik zusammenfügt. Wer „Mille Plateaux“ sagt, muss eben auch zwischen tausend Deutungsmöglichkeiten wählen.

Man wird sich also daran gewöhnen müssen, dass die unzähligen Spielarten elektronischer Musik entweder zur Hochkultur mutieren – oder doch wieder in der freundlichen Unverbindlichkeit des Pop aufgehen könnten. Jelinek zumindest zieht der allgemeinen Panelisierung die Party vor. Mit „la nouvelle pauvreté“ ist er von einem Minimalismus abgekommen, bei dem eine einzige Produktionsidee 50 Minuten lang in eine Form gegossen wird. Jetzt heißt es: Heterogenität zeigen, „deshalb sind die Stücke kürzer geworden, es ging ja darum, ein Popalbum zu machen, auf dem jeder Song für sich stehen sollte – ich sag schon Song –, na ja, jeder Track sollte für sich stehen“. Der Versprecher ist gut, er passt prima ins neue Konzept.

Ob aus Jelinek irgendwann ein richtiger Songwriter wird? „Bislang ist es noch eher so, dass ich mit existierender Musik anfange, mich langsam daran abarbeite und zufällig Sound entsteht. Aber wenn ich wie Depeche Mode klingen wollte, würde ich vermutlich scheitern.“

Jan Jelinek avec the exposures: „la nouvelle pauvreté“ (Scape/Efa)