Der Grabstein von Malewitsch

Heinz Emigholz stellt sich in seinem Tagebuch „Das Schwarze Schamquadrat“ eine Welt vor, in der „Worte noch etwas bedeuten“. Entstanden ist so ein Textcontainer, in dem Filmbeschreibungen neben Zeichnungen und Fotos stehen und theoretische Reflexionen neben autobiografischen Betrachtungen

„Zur Phänomenologie des Spazierengehens, Photographie und jenseits, Stalingrad …“

von STEFANIE SCHLÜTER

Wer Heinz Emigholz’ Filme „The Basis of Make-Up“, Teil I und II, kennt, wird mit der Gattung des Tagebuchs bei Emigholz soweit vertraut sein, wie dies ein systematisches Durchblättern seiner handgeschriebenen und illustrierten Notizbücher zulässt. Als abstraktes Daumenkino bewegen sich Schrift und Bilder auf den wie von Geisterhand umgeblätterten Tagebuchseiten vor den Augen des Betrachters hin und her, springen die Zeichnungen auf und ab. Selten erfasst das Auge die ganze Seite, nie holt es seinen Gegenstand ganz ein. „Die Tür wird auf- und sofort wieder zugemacht, die Paradoxie des Films auf die Spitze getrieben, dass man etwas bekommt, was einem sofort wieder genommen wird“ (Emigholz).

Nun liegt Emigholz’ neues Buch „Das schwarze Schamquadrat“ vor, das sich in mindestens einem entscheidenden Punkt von den gefilmten Tagebüchern unterscheidet: Es durchbricht die Strenge der Linearität, mit der die Hefte in den Filmen von vorn nach hinten durchgeblättert werden und erscheint stattdessen in Form eines „achronologischen Tagebuchs“. So richtig gut gefalle ihm sein „Schwarzes Schamquadrat“ erst, seitdem er darin nichts mehr wiederfinde, so Emigholz bei der Vorstellung des Buches.

Doch gegen das ausufernde Chaos kommt dem Künstler – wie dem Leser – ein vorbildlicher Index zur Hilfe, der alle vier bisher im Martin Schmitz Verlag erschienenen Publikationen von Heinz Emigholz miteinander verbindet.

Sein neuestes Buch, bereits vor gut zehn Jahren mit der Beschreibung „Erzählungen und Essays: Film und Atmen, das beleidigte Kind, Einsamkeit und Politik, zur Phänomenologie des Spazierengehens, Photographie und jenseits, Stalingrad, Versunkenheit und der Grabstein von Malewitsch“ angekündigt, zeichnet sich durch eine verwirrende Vielschichtigkeit der Text- und Bildangebote aus und verweist damit darauf, dass das Denken sich nicht zerstückeln lasse, sondern „in Echtzeit auf allen Ebenen gleichzeitig“ stattfinde.

So finden sich dort neben knappen, konzentrierten Filmbeschreibungen, insbesondere denjenigen, die begleitend zu einer Experimentalfilmreihe seit 1993 im Arsenalkino-Programm (Berlin) veröffentlicht wurden, Texte zu Emigholz’ eigenen Arbeiten, theoretische Reflexionen über Kunst und Film, Autobiografisches, Interviewauszüge und Fiktionales, durchsetzt von Schwarz-Weiß-Zeichnungen und Fotos.

Die ungefähre Mitte bildet nicht, wie ursprünglich geplant, ein Aufsatz über den russischen Künstler Kasimir Malewitsch, der 1915 mit seinem „Schwarzen Quadrat auf weißem Grund“ eine neue Kunstrichtung – den Suprematismus – ausrief, um alle bis dahin in der Kunst gängigen „Ismen“ an ihr Ende zu führen.

Ironischerweise fiel ausgerechnet dieser Essay einem Festplattenabsturz zum Opfer. An seine Stelle gerückt ist das dem Festplattenabsturz nahe kommende faksimilierte Tagebuch Nr. 66, das „vom 7. Mai bis 3. September 1988 an neunzig Tagen in Hamburg, siebenundzwanzig Tagen in Berlin, sechs Tagen in Dänemark und einem Tag in Düsseldorf geschrieben und am 3. September in Dänemark verbrannt worden“ ist.

Das „Schwarze Schamquadrat“ stellt in Form eines Textcontainers die „interne Zerrüttung der körpereigenen Zeit- und Ortswahrnehmung“ dar, „die man mit den Begriffen Depression und Melancholie belegt“.

Gerade diese für das Medium Film konstitutiven Kategorien – Zeit und Raum – hat Heinz Emigholz immer wieder radikal in Frage gestellt. Etwa im Ende der Siebzigerjahre entstandenen Film „Normalsatz“. So wie dort aus den realen Städten Brooklyn und Hamburg der imaginierte Ort „Brookburg“ entsteht und die räumliche Distanz zusammenschmelzen lässt, wird auch die Zeitstruktur durch Sprünge im Raum und eine auf Schuss/Gegenschuss verzichtende Schnitttechnik außer Kraft gesetzt.

Hinzu kommt eine Sprachskepsis, die Emigholz im „Schwarzen Schamquadrat“ weitgehend revidiert. Wörter und Sätze erscheinen in „Normalsatz“ noch als zertrümmerte und isolierte Ausdrucksformen, die allenfalls in ihrer Wiederholung einen Sinn anzudeuten vermögen – die Darsteller stolpern über einen Satz und stoßen auf ein Wort. Während die Sprache hier – den Gedichten Mallarmés verwandt – als referenzloses System existiert, schwebt Emigholz in seinem neuen Buch eine Welt vor, „in der Worte noch etwas bedeuten, in der die Sprache ein Lebenselexier geblieben ist“.

Nicht zuletzt mit der Unterbrechung der gesetzmäßigen Kombination von Sprache und Bild deckt Emigholz in seinem früheren Werk die Übermächtigkeit der Sprache gegenüber dem Bild auf. Als Antwort auf die gegenwärtige Bilderflut wendet sich Emigholz nun von seiner Skepsis gegenüber der Sprache ab. Die Kritik richtet sich jetzt vor allem gegen das unhinterfragte Zitieren ehemals experimenteller Ausdrucksmittel und gegen ihre Aneignung und Nutzbarmachung durch den offiziellen Kunstbetrieb oder durch die Werbemaschinerie.

Wer bei der Lektüre des „Schwarzen Schamquadrats“ trotz der alltäglichen Bilderflut einen Hunger nach Bildern verspürt, kann ihn in der noch bis zum 27. April in der Deutschen Guggenheim Berlin laufenden Malewitsch-Ausstellung stillen. Dort ist neben anderen Werken aus Malewitschs abstrakter Phase auch eines seiner legendären Schwarzen Quadrate zu sehen. Das Positiv zum depressiven Negativ – „Das Weiße Schamquadrat“ – hat Emigholz bereits in Aussicht gestellt. Dort soll dann ein Aufsatz über Malewitsch erscheinen, der hier nicht nur im Titel und durch die Abbildung seines im zweiten Weltkrieg zerstörten Grabsteins Spuren hinterlassen hat.

Eines haben Malewitsch und Emigholz gemeinsam: Beide leisten auf höchst eigentümliche Weise Widerstand gegen die Einverleibung durch den zweckrational ausgerichteten Kulturbetrieb, indem sie an der Schaffung neuer Gattungen und Stile gearbeitet haben und arbeiten.

Heinz Emigholz: „Das Schwarze Schamquadrat“. Berlin 2002, Verlag Martin Schmitz, 285 Seiten, 18,50 €