Dem Clan verpflichtet

aus Mosul KARIM El-GAWHARY

„Das sind über dreizehn Meter Familie.“ Stolz hält das Stammesoberhaupt das eine Ende der Papierrolle fest, während sein Sohn Schritt für Schritt unter dem Rascheln des Papiers den 1.600-jährigen Stammbaum der Beni Chaleds ausrollt. Penibel sind dort mit Beginn des Stammesgründers Beni Chaled al-Machjumi die Vorväter und deren in den ganzen Irak reichende Zweige mit Bleistift aufgezeichnet. Als der Sohn am Ende des Raumes angelangt ist, lehnt sich Talal al-Chalidi, der Scheich al-Qabila, zurück und genießt dabei sichtlich, dass er seinen Gast, der gerade einmal den Namen seiner Urgroßeltern kennt, zutiefst beeindruckt hat. Um anschließend zu fragen: „Wie kann jemand mit einer solchen Familiengeschichte seine Loyalität verkaufen?“

Doch genau das ist die große Frage, die nicht nur in dem Haus im nordirakischen Mosul im Raume steht, in dem der Scheich seine Gäste empfängt. Wie werden sich die 150 im Irak ansässigen Stämme verhalten, wenn die ersten US-Truppen am Horizont auftauchen? Nicht nur US-Militärstrategen, auch westliche Diplomaten in Bagdad gehen davon aus, dass viele Stammesfürsten angesichts der militärischen Übermacht oder wegen möglicher finanzieller Zuwendungen ihr Fähnlein pragmatisch in den Wind hängen werden.

Spätestens seit dem Afghanistankrieg ist das alte koloniale Konzept des Stammeskaufs in der Außen- und Militärpolitik der USA wieder in Mode gekommen. Die Washington Post bezeichnete die irakischen Stämme bereits als unbekannte Größe, die bei einer US-Invasion in den Irak eine wichtige Rolle spielen könnte. Dagegengehalten wird meist, dass der Irak mit seiner langen Tradition staatlicher Institutionen und seiner starken Zentralregierung nicht Afghanistan sei.

Aber selbst Wamid Nathmi, Politologe an der Universität von Bagdad, gibt zu, dass das System der Stämme im Irak „nicht 100-prozentig sicher ist“. Es sei nicht ganz von der Hand zu weisen, dass einige der irakischen Stammesfürsten für Geld schnell ihre Loyalität wechseln könnten, sagt Wamid Nathmi.

Ausgerechnet die Zentralregierung in Bagdad hat ihren Teil dazu beigetragen, dass das Konzept der Stammesidentität im Irak heute noch große Bedeutung hat. Und das, obwohl das regierende Baath-Regime bei seiner Machtergreifung 1963 alles darangesetzt hatte, den Einfluss der Stämme in der Gesellschaft zugunsten der Partei und der Zentralgewalt in Bagdad zurückzudrängen. Im Namen des „neuen säkularen arabischen Staates“ wurde das Stammessystem damals gerne als „reaktionärer Ausdruck von Rückständigkeit“ beschrieben, das sich nicht mit den Erfordernissen eines modernen Lebens in Einklang bringen lasse.

Das alles änderte sich allerdings mit dem letzten Golfkrieg und der Verhängung von UN-Sanktionen. Das geschwächte Regime suchte nach treuen Partnern im eigenen Land. „Das Stammessystem wurde wiederbelebt, weil der Staat wirtschaftlich angeschlagen war und nach jemandem suchte, der ihm einen Teil der Lasten und Pflichten abnehmen könnte“, erklärt der Politologe Nathmi.

Aber nicht nur um das Regime wirtschaftlich über Wasser zu halten wurde die alte Stammessolidarität wieder ausgegraben. Die Stammesfürsten wurden auch wieder als verlängerter Arm zur Durchsetzung von Recht und Gesetz eingesetzt. „Viele Probleme lösen wir jetzt wieder unter uns, in Zusammenarbeit mit dem Staat“, erzählt Scheich Ahmad Muheddin Zangana. Das Oberhaupt des kurdischen Clans der Zangana lebt in einem von Stammeskämpfern schwer bewachten Haus in Mosul. Streitfälle würden den Gerichten erst übergeben, wenn durch Verhandlungen zwischen den Oberhäuptern keine Lösung gefunden werden könne, erklärt er.

Das fängt bei Kleinigkeiten wie einem Autounfall an. Da setzen sich die lokalen Chefs der betroffenen Stämme zusammen und entscheiden, wer den Schaden zu bezahlen hat, so Wamid Nathmi. Aber auch bei Mord wird oft untereinander das Blutgeld ausgehandelt. Hat man sich im Rahmen des Stammessystems geeinigt, fällt die Gefängnisstrafe automatisch niedriger aus. Als Saddam Hussein im Oktober letzten Jahres eine Generalamnestie für alle Gefangenen erließ, setzten sich die Stammesoberhäupter des Landes zusammen und handelten für die Mordfälle Regelungen aus, um zu verhindern, dass die Clans in Folge der Amnestie Blutrache in großem Stil verübten.

Die Verhandlungen hatten Erfolg. All dies führt dazu, dass viele Iraker, die zuvor ihre Stammeszugehörigkeit vergessen hatten, heute wieder in diesem Rahmen rechtlichen Schutz suchen. „Ich weiß nicht, wie groß mein Stamm genau ist, sagt Stammeschef Zangana. Er schätzt, dass er 20.000 bis 30.000 Familien umfasst. Die meisten registrierten sich im Stammesregister erst, wenn sie irgendwelche rechtlichen Probleme hätten, sagt er.

Das Register ist in den letzten Jahren sichtlich länger geworden. Irakische Soziologen schätzen, dass gut ein Drittel aller Iraker eine Loyalität gegenüber ihrem Stammeschef verspüren, ganz besonders auf dem Land. Zumindest vordergründig danken die Stammesfürsten Saddam Hussein für ihre neue Rolle. Das letzte Mal hatten sie ihm beim Präsidentenreferendum im Oktober 2002 öffentlich gehuldigt. Saddam Hussein, der aus Tikrit stammt und dem Stamm der al-Bu Nasir angehört, hat zwar viele wichtigen Ämter im Staat, vor allem im Sicherheitsapparat, mit ihm loyalen Mitgliedern des eigenen Stammes besetzt. Dennoch beschreiben ihn die Oberhäupter anderer Stämme, wie auch Talal al-Chalidi, als „den Führer aller Stämme“. „Exzellenz Saddam Hussein“, sagt er voller Begeisterung, „ist ein Symbol für uns, ähnlich wie die Freiheitsstatue für die Amerikaner.“

Auch in der Verteidigungsstrategie gegen eine US-Invasion hat das Regime in Bagdad den Stämmen eine Rolle zugedacht. „Mir unterstehen 2.500 Kämpfer mit leichten Waffen“, sagt Stammeschef Ahmad Zangana. In Koordination mit der Armee und der Partei wurden ihm ein bestimmter Abschnitt einer Landstraße und ein paar Dörfer zur Verteidigung zugeteilt. Vor einem Monat hätten seine Kämpfer von der Regierung sogar einige Luftabwehrgeschütze gegen Apache-Kampfhubschrauber erhalten. „Wir trainieren seitdem jeden Tag“, so Zangana.

Auch Talal al-Chalidi ist in das Verteidigungssystem eingebunden. Sein Sohn bringt eine irakische Landkarte, auf der anstelle von Städten, Straßen sowie Euphrat und Tigris ein gemaltes Porträt Saddam Husseins gedruckt ist. „Mein Stamm wird überall kämpfen, wo er gebraucht wird“, kündigt der Scheich an, während er mit der linken Hand auf das Gesicht des Präsidenten klatscht. „Ob in Mosul“ – er deutet auf Saddam Husseins Haaransatz – „oder Basra“ – sein Zeigefinger rutscht zum präsidialen linken Ellenbogen.

Für das Regime ist die Bewaffnung der Stämme, deren Loyalität es sich am Ende nicht sicher sein kann, ein Spiel mit dem Feuer. Wenngleich der Politologe Nathmi das Risiko als gering einschätzt. „Alle Kämpfer der irakischen Stämme zusammengenommen wären kein ernst zu nehmender Gegner für eine einzige Division der irakischen Armee“, sagt Nathmi. Er bezeichnet die Armee als das Rückgrat für die Einheit des Landes. Doch auch wenn einige Stammesfürsten schnell die Seiten wechseln würden, so täten sie dies nur, weil sie sich der Übermacht der US-Truppen beugen müssten oder um das Regime zu stürzen.

Über eines ist sich Nathmi sicher: Selbst wenn es einige Stämme gäbe, die zu Beginn die US-Truppen unterstützten – langfristig würden sich alle gegen eine Besatzung ihres Landes wehren. Schon einmal in der Geschichte Iraks hatte sich eine einmarschierende Armee verschätzt. Während des Ersten Weltkriegs marschierten britische Truppen den Tigris hoch, um den Irak dem osmanischen Einfluss zu entreißen. Die Stämme, so dachten die Briten, würden sich gegen die unbeliebten Osmanen schnell auf die Seite der neuen Kolonialisten schlagen.

Als die britische Armee 1917 schließlich Bagdad erreichte, waren tausende britische Soldaten durch Krankheiten und Scharmützel mit den Stämmen ums Leben gekommen. Die Stammesfürsten, die sich gegen die Briten erhoben hatten, werden bis heute als nationale Helden in Ehren gehalten, während über jene, die damals kooperiert haben, verschämt geschwiegen wird.

Als Talal al-Chalidi seine dreizehn Meter Familie wieder eingerollt hat, sagt er, jedes Kind im Lande wisse, dass die Amerikaner nur des Öls wegen kommen. Zumindest nach außen hin scheint sich der Stammeschef seiner und seines Landes Natur sicher zu sein: „Wenn die Amerikaner kommen“, kündigt er an, „werden nicht nur alle Menschen im Irak Widerstand leisten, selbst der irakische Wind wird den irakischen Wüstensand aufwirbeln und ihn in die Gesichter der amerikanischen Soldaten schleudern.“