Ein Riegel vor der Zukunft

Zwischen den Lebenden und den Toten wird hier überhaupt kein Unterschied gemacht: Andrej Woron und das Teatr Kreatur verabschieden sich mit Bruno Schulz’ Stück „Sanatorium zur Todesanzeige“ vom Theater am Ufer und wohl auch aus Berlin

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Diese Geschichten sind regressiv. Sie stoßen sich an der Gegenwart ab wie die Billardkugel an der Bande und rollen unentwegt zurück in die Vergangenheit. Auf der Bühne des Teatr Kreatur schlägt immer wieder ein großes Tor aus Holz zu, wie ein Riegel in der Zeit, der sie von der Zukunft ausschließt: Sie, das sind eine Bühnenfigur, ihr Autor und ihr Regisseur. Bruno heißt der Protagonist des „Sanatoriums zur Todesanzeige“, dem neuesten Stück des Teatr Kreatur, der zu den Gespenstern seiner Kindheit zurückkehrt. Erfunden hat ihn der polnische Autor Bruno Schulz, der 1942 im Ghetto der Stadt Drohobycz von der Gestapo erschossen wurde; seine surrealen Erzählungen, die das Ausgeschlossensein aus der Zeit und von der biografischen Entwicklung in gespenstischen Szenarien voller Widergänger umsetzen, wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod entdeckt. Andrej Woron ist der Regisseur, der aus diesen Bewegungen der Erinnerung, die sich in stetig enger werdenden Spiralen tief in etwas hineinschrauben, was zugleich immer diffuser wird, einen unverwechselbar expressiven und tanztheatralischen Stil gewonnen hat.

Dreimal Geschichten vom Verschwinden – und man sitzt da und lacht. Das hat das Teatr Kreatur, das 1990 mit den „Zimtläden“ nach Bruno Schulz in Berlin wie ein Raumschiff voller lange verschollen geglaubter Verwandter landete, am Anfang so beliebt gemacht. Die Mechanik des Grausamen ist immer so knarzend und grotesk ins Bild gesetzt, die Lust am Schreck immer ein wenig größer als die Furcht. Und jeder, der abtritt und stirbt, kommt gleich wieder. Zwischen Lebenden und Toten wird da schon lange nicht mehr unterschieden.

Im „Sanatorium zur Todesanzeige“ begegnet Bruno auch Kaiser Franz-Josef I. und Erzherzog Maximilian, beide gespielt von den ehemaligen Ladengehilfen im Geschäft von Brunos Vater. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehören Exekutionen und Löscheinsätze: „Gebt Feuer!“, brüllt der Erste, „Gebt Wasser!“, brüllt der Zweite, jede Menge Maschinen setzen sich in Bewegung, es knallt und spritzt, Guillotinen schlagen Köpfe ab, und anderen wachsen plötzlich die Haare wieder. Überhaupt, die Maschinen, Erben des Surrealismus: Sie haben meist auch eine sehr schräge, erotische Komponente. Galgen, Badewannen, Guillotinen, Kastrationsmaschinen, Verwandlungskabinette: Die Pumpenschwengel, an denen die Feuerwehrleute kräftig pumpen, gleichen nicht zufällig Frauenbeinen. Es sind Junggesellenmaschinen der Ersatzbefriedigung, natürlich; aber hier im Einsatz, weil das Leben alle anderen Möglichkeiten verweigerte. Und ebenso wie ihre Mechaniken neigt auch die Komposition des ganzen Stücks zu Wiederholungen und Kreisbewegungen – bis zum Schluss, da hier ein Flugzeug ins Spiel kommt. Es ist besetzt mit den Puppen, den Doppelgängern der Spieler, die sich selbst schon bloß als „Simulanten“ von Lebendigen sehen. Und doch ist es alles, was man hat, um Aufbruch zu verkörpern.

Mit dem Flugzeug sind wir wieder bei der Geschichte von Andrej Woron, denn er und sein Teatr Kreatur verlassen das Theater am Ufer, für das nach einem neuen Konzept gesucht wird. Bewusst erinnert ihr letztes Stück an den Erfolg des ersten, nicht nur um die Kreisbewegung als Markenzeichen zu bestätigen. Worons Erfolg war anfangs groß, weil man in den Jahren nach der Wende für Geschichten aus dem Osten und einer grenzüberschreitend verdrängten Vergangenheit empfänglich war. Doch in den Neunzigerjahren kam dem Teatr Kreatur die Unterstützung abhanden, finanziell und moralisch, weil sich ihre Stücke so sehr glichen und nicht dem Förderkriterium der Innovation entsprachen. Innovation ist hier tatsächlich nicht. Worons Theater ist Erinnerungskult.

Wo man das Teatr Kreatur nach Berlin sehen kann und ob überhaupt, ist offen. Nicht gesehen zu werden, das ist im „Sanatorium zur Todesanzeige“ immer wieder eine der schlimmsten Strafen. Alle sitzen in Schulbänken, gleich doppelt zur Sicherheit, neben sich ihre Puppe. Und alle, alle melden sich, immer wieder, das Bild friert ein – und nichts geschieht. Keiner reagiert. Keiner sieht sie. Es gibt sie ja gar nicht mehr.

„Sanatorium zur Todesanzeige“: Theater am Ufer, Tempelhofer Ufer 10, bis 30. März, Do.–So. um 20 Uhr