Zwischen Blut und Feuer

Serbien, Afghanistan, Irak – der Sturz eines Unrechtsregimes allein reicht nicht. Ohne Mentalitätswandel durch „reeducation“ kann Demokratie nicht entstehen

von SEAD HUSIC

Vojislav Šešelj lächelt. Immer lächelt dieser Mann, wenn er vor einer Schar Journalisten sitzt. Er blickt durch seine großen, ovalen Brillengläser über den Mikrofonwald hinweg in die Gesichter der Presseleute und sagt, er sei ein serbischer Held, der in Kroatien kämpfte, der in Bosnien kämpfte, der im Kosovo kämpfte – für Serbien. Alles, was er auch tat, immer habe er es für sein Land getan.

Dieser Tage hat das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag die Anklage gegen Šešelj veröffentlicht. Ihm werden schwere Kriegsverbrechen in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo zur Last gelegt. Er soll Vergewaltigungen seiner paramilitärischen Einheiten, die sich „weiße Adler“ nannten, gebilligt, Vertreibungen und Massenmorde befohlen haben. Am Montag flog Šešelj nach Den Haag. Freiwillig. Um die Anklage zu widerlegen, sagt er. Bevor er flog, veranstalteten zehntausende seiner Anhänger ein große Abschiedsfeier in der Belgrader Innenstadt. Šešelj gilt als Held.

Vojislav Šešelj ist einer der Vertreter der neuen serbischen Elite, die sich Anfang der Neunzigerjahre etablierte und auch heute noch die politische Szene des Landes beherrscht. Er ist stolz darauf, dass faschistische und antisemitische Vorstellungen die Ideologie seiner politischen Organisation, der Serbischen Radikalen Partei, unterfüttern. Bei den Präsidentschaftswahlen im vorigen Jahr gewann Šešelj ein Drittel der Stimmen. Seine Fans glauben, dass das Haager Tribunal eine Verschwörungsinstitution der Europäer und Amerikaner ist, die nur dazu dient, die Natoangriffe gegen Serbien zu rechtfertigen.

In Serbien gibt es keine kritische Auseinandersetzung mit den Taten des Milošević-Regimes. Das Land existiert in einer anderen Welt. Und in dieser Welt können Serben keine Kriegsverbrecher sein. Denn Serben handeln im Auftrag Gottes, und in seinem Namen darf – zum Schutze des geheiligten Volkes – auch getötet werden. So erklärt es das serbisch-orthodoxe Oberhaupt Patriarch Pavle, der auch den Segen sprach für Radovan Karadžić und Ratko Mladić, deren Konterfeis – aufgedruckt auf T-Shirts und Poster – in den Belgrader Straßen verkauft werden.

Schon 1993 sprach Pavle den Segen über diese Männer, vor den TV-Kameras des Staatsfernsehens, damals, mitten im bosnischen Krieg, als Sarajevo noch eingekesselt war. Die serbisch-orthodoxe Kirche hieß die Vertreibungen der nichtserbischen Bevölkerung gut und erweckte die Erinnerung an die Tschetnikbewegung des Zweiten Weltkriegs wieder zum Leben. Damals verfolgten die königstreuen Tschetniks Juden auf grausamste Art. Heute schießen im ganzen Land Tschetnikstatuen wie Pilze aus dem Boden. Sie sollen an die „ruhmreichen Kämpfer für Serbien“ erinnern.

Eine Gesellschaft hat sich mit ihren Mördern arrangiert. Nach Schätzungen des Haager Strafgerichtshofs und der EU-Beobachtermission in Belgrad leben im serbischen Teil Bosniens und in Serbien und Montenegro mehr als 150 gesuchte Kriegsverbrecher, darunter Karadžić und Mladić. Auf einer geheimen Liste der Ankläger in Den Haag stehen noch mehr als hundert weitere Namen.

Doch niemand will alle Gesuchten tatsächlich vor das Tribunal zerren. Die kleinen Fische, wie es heißt, sollen vor serbische Gerichte gestellt werden. Dies fordert mittlerweile auch die US-Regierung. Doch das wird nicht passieren. Im Gegenteil. Die meisten der Gesuchten zählen mittlerweile zur Elite des Landes. So wie der ehemalige Freischärlerführer Šešelj. Entweder gründeten die Herren eigene Parteien und gelangten zu einflussreichen Positionen, oder sie machten lukrative Geschäfte mit dem Verkauf der Beute aus ihren Kriegszügen in Bosnien. Sie bauten Tankstellennetze auf und verkauften geraubte Autos. Sie mordeten auf ihren Feldzügen – und verscherbelten das Eigentum der Ermordeten auf den Belgrader Märkten.

Formal ist Serbien eine Demokratie. Aber unter der Oberfläche eines leidlich funktionierenden politischen Systems ist die Gesellschaft immer noch durch Gewalt und fehlendes Unrechtsbewusstsein geprägt. Was Serbien fehlt, ist eine Umerziehung, so wie in vielen Gesellschaften, die zwischen Blut und Feuer leben.

Umerziehung? Einmal nur ist Umerziehung geglückt. In Deutschland. Als Hitler besiegt und Deutschland besetzt wurde. Damals gab es das Programm der re-education, das erfolgreicher war als das vorangegangene Entnazifizierungsprojekt. Die Umerziehung erfasste nahezu alle Lebensbereiche. Kindergärten, Schulen, Universitäten, Rundfunk, Presse und Film strukturierten die Westalliierten in ihren Zonen um. Vor allem bei der Jugend setzten die Militärverwaltungen zentral an. Alle Schulbücher aus der Nazizeit wurden vernichtet, Lehrer und Professoren mussten sich langwierigen Prozeduren unterziehen, um ihre Beteiligung im NS-Staat – im Zweifel – zu widerlegen.

Die Umerziehung war Teil einer politischen Strategie. Die Bundesrepublik sollte zum demokratischen Bollwerk an der Grenze zum Sowjetimperium werden. Dazu musste erst die NS-Ideologie radikal diskreditiert und damit die Voraussetzung geschaffen sein, die Geschichte des Unrechtsregimes kritisch aufarbeiten zu können. Heran wuchs eine Generation, die unter dem Schutz und dem kulturellen Einfluss der USA über die Vergangenheit sprach, die die Eltern zur Rede stellte und Erinnern als wichtig empfand, die die Achtung der Menschenwürde verinnerlichte. In Serbien gibt es keine Diskreditierung der jüngsten Vergangenheit.

Die Schulbücher erzählen immer noch von den tapferen und edlen Serben und den ewigen Feinden, den Ustascha, die natürlich allesamt Kroaten und Muslime sind. Serbien wahrt die Kontinuität seiner Heldenprosa von Gut und Böse. Reißenden Absatz finden neue und wieder aufgelegte Bücher der Apologeten des neuen serbischen Nationalismus, wie Dobrica Cosić, Vuk Drašković und, ja, Radovan Karadžić, der irgendwo in seinem Versteck Dramen schreibt, die in Belgrad verlegt und aufgeführt werden.

Bei dem dieser Tage bevorstehenden Krieg stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den Tätern des Regimes von Saddam Hussein. Was geschieht im Irak nach einem Herrschaftswechsel mit der jetzt noch machtausübenden Elite? Was geschieht mit den Mitarbeitern in Saddams zahlreichen Geheimdiensten, was mit den Denunzianten und Embargoprofiteuren? Was mit den Folterern und Henkern der Diktatur? Die heutige Strategie der Vereinigten Staaten sieht kein Programm zur Umerziehung vor. Welche Konsequenzen das hat, lässt sich an Serbien studieren. Und an Afghanistan, wo die USA erst die Taliban gegen die Sowjetunion unterstützten und sie jetzt mit den Mudschaheddin bekämpfen.

In den betroffenen Gesellschaften wird intern abgerechnet mit den einst Mächtigen. Unter den Augen amerikanischer Soldaten ermordeten die Verbündeten tausende Talibankämpfer. Die Menschenrechtsorganisation „Physicians for Human Rights“ recherchierte die Hintergründe des Umgangs der neuen Machthaber mit den ehemaligen Herrschern. Ihr Ergebnis: Das Morden geht weiter, auch in der Hauptstadt Kabul, denn nun wird Rache geübt an den Talibananhängern und Kollaborateuren.

Es wird zu einer neuen grausamen Runde des Rachemordens kommen, denn die Unterdrückten warten nur auf ihre Gelegenheit, sagt Dzamila H., eine Irakerin, die vor acht Jahren nach Berlin floh. Ihr Mann verschwand in einem von Saddams Gefängnissen, für immer, weil er ein Dissident war. Seine Familie schwor Rache und wartet seither auf ihre Stunde. Es gebe eine Redensart, sagt Dzamila, die laute: „Arrangiert euch mit den Mördern, vergebt ihnen, lebt mit ihnen. Zumindest solange ihr nicht am Zuge seid. Aber wenn es so weit ist und das Blatt sich zu euren Gunsten gewendet hat, dann nehmt Rache – auf dass eure Feinde nicht wiederkehren mögen.“

Als ob der ewige Kreislauf des Hasses damit durchbrochen werden könnte. Wenn die US-Regierung ein neues quasidemokratisches System in Bagdad etabliert hat, wird es keine Umerziehung geben, aber viele Morde. Formaldemokratische Ordnungen lassen sich verhältnismäßig leicht schaffen, ein Mentalitätswandel braucht lange, viel länger jedenfalls, als ein Krieg gegen Irak dauern wird. Die USA müssten ein neues re-education program betreiben, um dem Land die Chance eines dauerhaften Friedens und zum Aufbau einer Zivilgesellschaft zu geben.

Sollte es zum Krieg in Irak kommen, sollten sich gerade die Deutschen für eine Umerziehung einsetzen, für die Durchsetzung der westlichen Werte, und nicht den gleichen Fehler begehen wie in den Balkankriegen der Neunzigerjahre. Sonst wird in Irak nur eine Herrschaftselite gegen eine andere ausgetauscht, und alles bleibt beim Alten. Wie in Jugoslawien.

Zwar regiert dort der eloquente Zoran Djindjić, und Slobodan Milošević wurde nach Den Haag ausgeliefert, aber die Kriegsverbrecher und deren Familien gehören zur gesellschaftlichen Crème de la crème Serbiens, die vor allem von der Jugend abgöttisch verehrt wird. So wie die Sängerin Svetlana (Ceca) Raznjatović, Witwe des Kriegsverbrechers Dragan, genannt Arkan. Der wurde vor einigen Jahren von Unbekannten in einem Belgrader Hotel erschossen. Doch sein Ruhm lebt weiter, und seine Frau wird von den Massen verehrt wie eine Heilige. Mehr als hunderttausend Fans versammelt Ceca in Fußballstadien zu ihren Konzerten und singt dann sentimentale Lieder auch über ihren Mann, den Helden, der die heilige serbische Erde gegen die Muslime, Albaner und Kroaten verteidigte.

Über die von ihrem Mann befohlenen Massenmorde an muslimischen Zivilisten in Bosnien spricht die Sängerin nicht. Und wenn, dann beschimpft und verhöhnt sie die Opfer als „Lügner und menschlichen Abschaum“. Die Belgrader Intellektuellengruppe „Zentrum für geistige Dekontamination“ kämpft seit Jahren um die ehrliche Auseinandersetzung mit der serbischen Vergangenheit und fordert die Umerziehung. Ohne Erfolg. Mittlerweile wagen viele der Mitarbeiter nicht mehr, in der Öffentlichkeit aufzutreten, unter anderem aus Angst vor den Schlägertrupps der SRS von Vojislav Šešelj. Sie und die Skinheads der Stadt sprengten, mit Baseballschlägern bewaffnet, vor einem Jahr die erste Gayparade Belgrads. Unter dem Leitspruch ihres Idols Šešelj („Toleranz ist für Schwächlinge“) schlugen sie auf die friedlichen Teilnehmer ein. Zu den Unterstützern der Prügelorgie gehörte die Kirche.

Und als im gleichen Jahr der US-Fotograf Ron Haviv eine Ausstellung über Jugoslawiens Nationalismen plante, da meldeten sich die Radikalen wieder zu Wort und beschimpften ihn als „dreckigen Juden“, den „die Nazis zu vergasen vergessen haben“. Die Behörden verboten Haviv die Ausstellung. Šešelj ist auch auf diese Aktion stolz. Dieser Tage kann man seitenlange Interviews mit Šešelj in der serbischen Presse lesen. Dort wird er als Opfer einer antiserbischen Justiz verklärt. Wie in dem Wochenmagazin NIN, in dem er ankündigt, dass eines Tages Serbien die verlorenen Territorien in Kroatien zurückerobern werde. Denn eines werde das serbische Volk nie tun: das Leid, das ihm angetan wurde, je vergessen.

SEAD HUSIC, Jahrgang 1974, gebürtiger Traunsteiner und Kind bosnischer Eltern, lebt in Berlin und promoviert über das Thema „Psychopathologie politischer Macht“