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Short cuts unserer Wahrnehmungen, Andeutungskunst: Janet Cardiffs und Georges Burges Millers Installation „The Berlin File“ im Frankfurter Portikus

von HORTENSE PISANO

Geduld war Voraussetzung, wollte man sich von Janet Cardiffs und George Burges Millers prämiertem Beitrag „The Paradise Institute“ auf der Biennale in Venedig 2001 selbst ein Bild machen. Vor dem kanadischen Pavillon standen die Zuschauer Schlange. Was von außen eher wie eine schlichten Holzbox anmutete, entpuppte sich im Innern als ein Kinosaal im alten Stil. Von den Rängen aus blickte man noch einmal in ein Miniaturkino und auf eine im Maßstab angepasste Leinwand. Der eigentliche Clou dieser Arbeit bestand aber in der Tatsache, dass über Kopfhörer nicht nur die Tonspur des vorgeführten Films, sondern die fiktiven Störgeräusche etwa eines schmatzenden Nachbars mitgeliefert wurden.

Die neue Installation „The Berlin Files“ im Frankfurter Portikus kommt ohne komplexen Aufbau aus. Stattdessen hat das Künstlerduo, das seit den Achtzigerjahren zusammenarbeitet, einen Raum aus lärmschützendem Abdichtmaterial geschaffen. Störende Geräusche werden in der dunklen Kammer nahezu ausgeblendet, in Ruhe kann man sich also völlig auf das Filmgeschehen konzentrieren:

Langsam fährt die Kamera durch eine Unterführung. Der neutrale Nicht-Ort wirkt künstlich entrückt, aber nicht weiter außergewöhnlich. Wäre da nicht plötzlich eine Frau im hellen Trenchcoat, die an der Decke entlangspazieren würde. Cardiff und Burges Miller haben in „The Berlin Files“ wohl nicht gleich die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Aber wie schon in früheren Filmen gelingt es ihnen, die technischen Mittel des Kinos so einzusetzen, dass beim Betrachter ein Perspektivwechsel entsteht. Verwöhnte Multiplex-Kinogänger müssen sich allerdings erst an den kleinformatigen Screen gewöhnen. Dafür holt die Soundkulisse die filmische Handlung erschreckend nah an die eigene Realität heran: Hektische Schritte, ein Schrei und ohrenbetäubende Propellergeräusche erfüllen beispielsweise den dunklen Raum. Minuten zuvor zeigt die statische Kamera einen jungen Mann, der in schnellen Schritten durch eine Schneelandschaft eilt. Es folgt eine Abblende.

Im Anschluss fokussiert die Kamera eine Frau mit blonder Perücke: „Wärst du gestorben“, attestiert sie mit einem hysterischen Lachen, „hätte das mein ganzes Leben verändert.“ Die nächste Szene spielt im Berliner Restaurant White Trash Food. Schummriges Licht umhüllt eine einsam in der Ecke stehende Frau, am Tresen poliert ein Barmann Gläser, während ein Sänger im Glitzeroutfit gekonnt ins Mikro haucht: „You’re not alone.“

Cardiff und Burges Miller geht es ums Geschichtenerzählen. Gemeint ist jenes Spiel mit wechselnden Rollen und Sujets. Wie im traditionellen Erzählkino wird immer wieder Spannung erzeugt. Der Film mit seinen kurzen Momentaufnahmen deutet aber lediglich an, die Handlung wird nie bis zum Endpunkt fortgeführt. Stattdessen werden die Sequenzen von Schwarzbildern durchzogen, die Raum für eigene Assoziationen lassen. Und so versinkt man im dunklen Kinoraum nochmals in Bowies alten Song „Rock ’n’ Roll Suicide“, der in dieser Geschichte eine ganz neue Dimension erhält.

Tatsächlich basiert der Film auf einer realen Begebenheit. Wie Burges Miller später verrät, wäre er vor einigen Jahren beinahe selbst in einem zugefrorenen See ertrunken. Aber im gleichen Atemzug fügt er hinzu: „At least, it’s all entertainment.“ Für Cardiff verhält sich der Film ähnlich wie die kleinen alltäglichen short cuts, bei denen sich unterschiedliche Wahrnehmungsstränge verdichten und an deren Rändern Realität und Fiktion ineinander übergehen.

Obwohl ihr Film die Illusionsmaschinerie des Kinos eindeutig transparent machen will, ist er nicht didaktisch. „The Berlin Files“ überzeugt mit eindrucksvollen Bildern – bisweilen kitschig überzogen, bisweilen poetisch still. Zuweilen gar spannender Actionthriller, ist er eins nie, keine Sekunde: langweilig.

Bis 16. März, Frankfurt, Portikus, www.portikus.de