Trainieren für die Zukunft

„Wir sind unter euch“: Das Theater kämpft. Um Geld, um Publikum und um die kleinen Städte.In Wismar und in Magdeburg, mit Uraufführungen, Bustouren, Nachtcafés und Sonntagsfrühstück

Ein attraktives Publikum bilden:Das ist der Erfolg der „Menschenfischer“

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Theater Wismar lädt ein zur Stadtrundfahrt: „Der historische Marktplatz“, zeigt die Reiseleiterin aus dem Fenster, „und der größte Parkplatz Nordostdeutschlands.“ Da weiß man gleich, dass die touristische Idylle von Gotik und Kopfsteinpflaster nicht lange vorhalten wird. Tatsächlich kurvt der Bus bald um ausgemusterte Arbeitsplätze: Zuckerfabrik, Schlachthof, Getränkekombinat – alle sind heute geschlossen. Selbst die Hallen der Werft sind ausgeschrieben für Erlebnisparks.

Davon haben die Spieler im Bus so ihre eigenen Vorstellungen. „Let’s Go West 2003“ heißt ihre Show für Stadtindianer, Sheriffs und Puffmütter. Die Darsteller sind in Wismar arbeitslos geworden, und wie es dazu kam und was ihnen noch blieb, erzählen sie in eingespielten Videos. Im Bus selbst aber proben sie mit Texten von John Steinbeck und Richard Sennett ihre Rollen in einem sonnigen und utopischen Land. Bald merken sie allerdings, dass es dort auch nicht einfacher ist als in Wismar. Das Alte ist zur Geisterstadt geworden und das Neue eine bloße Kulisse.

Entwickelt hat die Tour, die noch den ganzen März durch Wismar fahren wird, die Regisseurin Christine Umpfenbach, von der Theaterleiterin Astrid Griesbach aus Berlin nach Wismar eingeladen. In Berlin hat Umpfenbach zuletzt mit dem Obdachlosentheater Ratten 07 gearbeitet. Sie wollte für Wismar ein Stück machen, das sich „auf die Leute einstellt“. Mit kleinen mobilen Einheiten spielen, das hat Astrid Griesbach seit einem Jahr probiert und das Theater in leere Ladenlokale, Innenhöfe und auf den Marktplatz gebracht.

„Wir sind unter euch“: In diese Botschaft wird viel Energie gesteckt von den Theatern kleiner Städte. „Wir sind unter euch“, das signalisieren die Fotos in einem Spielzeitbuch der Freien Kammerspiele Magdeburg. Schauspieler stehen trampend am Straßenrand, die Hausreinigungstruppe zeigt sich im Schwimmbad, und der Intendant Tobias Wellemeyer schnarcht im Sessel. Es lebe das Understatement.

Auch hier sind die lokalen Verlierer der globalen Entwicklung wichtige Figuren auf der Bühne, zum Beispiel in „Olive-Generation“ von der Autorin Tanjana Tsouvelis. „Olive-Generation“ spielt überall dort, wo Jobs immer zu weit weg sind und Erfolg nur um den Preis des Verrates an den Idealen zu haben ist. Im Mittelpunkt steht ein junger Kinobetreiber, verzweifelt, weil seine japanische Filmkunstreihe mit sieben zahlenden Besuchern pro Vorstellung ihn sicher in den Ruin treibt. Ein Abend im Kinofoyer entwickelt sich als Slapstick-Komödie mittleren Tempos, mit verpatzten Liebesdialogen und Wasserohrbruch.

Ob „Let’s Go West“ oder „Olive-Generation“: Die neoliberale Rhetorik der individuellen Selbstbehauptung, dieses Trimmen auf Einzelkämpfertum, bekommt sein Fett weg. Zwar leiden Stücke daran, zu nah an der Misere ihrer Figuren zu kleben und kaum über das Offensichtliche hinauszukommen. Der Orientierungslosigkeit derer, die von der permanenten Selbsterfindung überfordert sind, haben sie nichts entgegenzustellen. Ihre Empathie ist größer als die ästhetische Form. Aber der spürbare Hunger, sich mit der Kunst unter allen anderen zu bewegen, lässt Energien überschwappen.

„Die Magdeburger Frauen“, sagt Tobias Wellemeyer, seit zwei Spielzeiten in der Stadt, „trainieren für die schönste Frau der Welt. Bei diesem Lebenswillen muss man sie packen.“ Noch nirgendwo sind ihm so viele Wellness-, Fitness- und Nagelstudios aufgefallen. Ein Großteil der innerstädtischen Geschäfte existierte vor fünf Jahren noch nicht. Diesem Umkrempeln der mittelstädtischen Identität antworten die Kammerspiele gleich mit einem Bündel von Strategien. Das Ensemble ist extrem jung, Absolventen kurz nach der Ausbildung, die noch keine hohen Gagen verlangen und in der Euphorie des Anfangs auch bereit sind zu Sonderschichten: Sonntagslesungen zum Frühstücksbrunch etwa, „weil man sonst in der Stadt nirgendwo ordentlich frühstücken kann“. Oder um einen aktuellen Stoff, wie von der amerikanischen Dichterin Naomi Wallace „The Retreating World“, der in die zurückweichende Welt eines jungen Irakers während des Golfkrieges hineinführt, noch schnell in den Spielplan einzubauen (deutschsprachige Erstaufführung am 5. März). Zudem bringen sie Premieren gebündelt raus: Klassiker von Strindberg, Goethe und Schiller liegen so auf dem gleichen Kontinent wie die vielen neuen Texte.

An der Kasse zu „Fräulein Julie“ von Strindberg, das Enrico Lübbe schlank und schnell inszeniert hat, mischen sich einige Punks unter eine Gruppe Schüler, mehr von den Mädchen der Gruppe als von „Fräulein Julie“ angezogen. Das aber ist ein Erfolg: ein attraktives Publikum zu bilden. Der Deutsche Bühnenverein veröffentlichte eine Umfrage unter Nichttheatergängern zwischen 16 und 29 Jahren: Neben der Konkurrenz von Fernsehen und Computer spielte die Vorstellung eine große Rolle, hier in einem fremden Milieu zu landen – keine Freunde, falsche Kleidung, keine Relevanz unter Gleichaltrigen. Das zu ändern hat Magdeburg geschafft, auch dank rühriger Dramaturgen, die in einem Umkreis von 200 Kilometern in Schulen, Clubs und Fußgängerzonen das Theater bewerben. „Menschenfischer“ nennt sie der Intendant.

Die Handschriften, die vorgestellt werden, sind heterogen. Die Stimmungslagen schwanken zwischen dem Gefühl der „Apokalypse und der Freiheit“, wie es Wellemeyer sagt. Man muss sich eben mehr als ein Stück ansehen, um ein Bild zu bekommen. Wer hier ins Theater geht, kann sich später bei so unterschiedlichen Positionen wie Castorf oder Thalheimer zu Hause fühlen. Ein Haus zum Reinwachsen. Der Erfahrungsmangel des Ensembles fällt da nicht so ins Gewicht – wohl, weil er geschickt vermittelt wird als gemeinsames Problem einer Stadt und ihres Theaters.