Der Kartograph aus Kreuzberg

Wo geht es noch mal nach Berlin-West? – In den Achtzigerjahren hat Gerhard Seyfried die Karten für den linksalternativen Alltag gezeichnet. Jetzt hat er mit „Herero“ einen historischen Roman über die deutsche Kolonialherrschaft geschrieben

Hier wurde am neuen Leben gebastelt, oder zumindest: Hasch statt Bier geraucht

von DETLEF KUHLBRODT

Gerhard Seyfried wurde am 15. März 1948 in München geboren. Als Kind hatte er in Kriegsruinen gespielt. Daher auch das Interesse am Militärischen. Von 1963 bis 1967 Lehre als Industriekaufmann, danach Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker. Ab Oktober 1967 Studium der Malerei und Grafik an der Münchner Akademie für das Graphische Gewerbe. Ende 1969 erzwungener Austritt wegen Streiks gegen die Notstandsgesetze. Ab 1970 freischaffender Grafiker und Karikaturist. Kurzzeitig in der Werbung tätig. Karriereausstieg. Linksradikale Gruppen. „Alles durchprobiert“ und dann in der Anarchoszene gelandet. Bis 76 zeichnet er für das links-anarchistische Münchner Freakmagazin das Blatt: „Komisch, dass Roth Händle da immer Anzeigen geschaltet hatte.“

Dann Berlin. Sehr erfolgreiche Comics aus dem linksundogmatischen Alltag. Mehrere Studienaufenthalte in den Vereinigten Staaten. 1990 als bester deutscher Comiczeichner ausgezeichnet. Zehn Comic-Alben veröffentlicht, davon drei zusammen mit der Kollegin Ziska. Heute arbeitet Gerhard Seyfried als Schriftsteller sowie als Übersetzer und Militärberater und hat nach 3-jähriger Arbeit gerade „Herero“ veröffentlicht – einen 600-seitigen Roman, der während des Herero-Aufstands 1904 gegen die deutsche Kolonialherrschaft spielt.

Komisch, jemanden zu besuchen, der die Karten gezeichnet hat, an denen man sich als Teenager orientiert hatte. Auf der Deutschlandkarte von Gerhard Seyfried, die 78 in seinem 68-und-die-Folgen-Buch „Wo soll das alles enden“ abgedruckt war, hatte Schleswig „Stressweg“, Kiel „Ziel“, München „Lynchen“ und Berlin-West Berlin-Pest geheißen. Auch der Name der kleinen Provinzstadt, in der man seine Jugend absolvierte, war lustig anarchistisch verballhornt worden. Zwar nicht superoriginell – aus „Segeberg“ war das nahe liegende „Sägewerk“ geworden – aber immerhin.

Stolz war man schon ein bisschen und fühlte sich als Teil einer linkshedonistischen Bewegung und undogmatischen Subkultur, die umso realistischer schien, weil sie von der großen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse nur noch ironisch sprach. Letztlich ging es darum, zu zeigen, dass das normale Leben aus Job, Karriere, Familie langweilig und falsch ist und dass es schöner ist, ohne Geld in WGs Hasch zu rauchen, Musik zu hören, Schwarz zu fahren, selbstbestimmt ein bisschen zu vertrotteln meinetwegen.

„Wir müssen leider draußen bleiben“, hatte es auf dem quasi emblematischen Seyfried-Bild geheißen, das zwischen 75 und 85 an den Haustüren progressiver Wohngemeinschaften zu hängen pflegte. Lustig gemalte Polizisten steckten enttäuscht ihre Köpfe zusammen. Hier durften sie nicht rein. Hier wurde am neuen Leben gebastelt, oder doch zumindest: Hasch statt Bier geraucht.

Seyfried ist 54. Früher sahen Leute über 50 älter aus. Mit fünfzig hatte er das Zigarettenrauchen aufgehört und wohnt allein im tiefsten Kreuzberg nahe der Markthalle. Hinterhaus. Ein-Zimmer-mit-Küche und da drüber noch ein Atelier. Alles eher ordentlich, aber doch gemütlich. Im Raum steht so eine Pyramide aus Glas mit vermutlich energietechnisch wertvollen Steinen auf drei Etagen. In einer Ecke des Ateliers steht eine Eisenbahnanlage mit bepflanzten Hügeln, Häusern, Straßenlampen. Die Schienen laufen ins Leere. „Wird wohl nie fertig werden“, sagt der Dichter. Er bastelt gerne nebenbei so vor sich hin. Das ist wie Stricken oder Meditieren.

Auf einem länglichen Regal an der Wand stehen die Werke, die er für die Journalisten, die ihn in Scharen in den letzten drei Wochen interviewten, als Erinnerungshilfe hingestellt hat. Die Plakate: Ströbele, an dessen Hanfhit ihm die falsche Grammatik missfällt, die zwei Weltverschwörungskarten vom letzten Jahr, eine Auftragsarbeit zum „Bibeljahr 2003“. Zehn Comicbücher: „Invasion aus dem Alltag“, „Freakadellen und Bulletten“ usw. – und die drei sehr schönen, neopsychedelischen Comicbücher, die er in den 90ern mit der Kollegin Ziska gemacht hatte. Auch das „Freak-Brothers“-Heft, dass er mal zeichnete, als er beim geistesverwandten Gilbert Shelton in Amerika zu Besuch war. Wie Harry Rowohlt hat auch Seyfried viele seiner Hefte ins Deutsche übersetzt.

Shelton wohnt wie Crumb schon längst in Frankreich; Seyfried überlegt sich, in die Schweiz zu gehen. In den letzten Jahren habe er ohnehin überwiegend für Schweizer Verlage gearbeitet: „Fast nur zum Thema Kiffen.“ Außerdem ist es in der Schweiz ruhiger und das Kiffen auch mehr oder weniger legal inzwischen, obwohl die Gesetze widersprüchlich sind.

Grad ist Seyfried zum Beispiel von der Schweizer Hanfmesse „Cannae-Trade“ gekommen, wo er ein Buch mit seinen Kiffercartoons vorgestellt hat. „Seyfrieds Cannabis-Collection“, Nachtschatten-Verlag. Er erzählt, dass an jedem Stand eine Hanfpflanze gestanden hätte. Die Polizei sei gekommen und habe jede der Pflanzen mit weißem Lack eingesprüht, um die Pflanzen rauchunmöglich zu machen. Gegen die Leute, die mit riesigen Joints drumrumstanden, sei sie aber nicht eingeschritten. Der Konsum ist ja erlaubt.

Wenn man älter wird und zurückblickt, sieht man Phasen. Es gab zum Beispiel „die anarcho-spanische Bürgerkriegsphase, so zwischen 70 und 73, als wir alle auf Durutti abgefahren sind. Souchy [den Autor eines Klassikers über den Spanischen Bürgerkrieg „Nacht über Spanien“; Anm. d. Red.] haben wir ja auch noch persönlich getroffen, den hatten wir in München besucht. Der lebte in einer Neubauwohnung in München. Der letzte große Anarchist, der das noch alles miterlebt hatte. Der saß da so und schrieb ununterbrochen auf seiner Schreibmaschine. Er hat ja ein Buch nach dem anderen gemacht. Und zwar mit ganz gichtigen Fingern auf so einer uralten Schreibmaschine aus den 40er-Jahren. Und da tat er uns dann Leid und wir sagten, wir besorgen ihm eine elektrische Schreibmaschine, was wir dann per Einbruch gemacht hatten. Wir hatten also aus einem Büro eine elektrische Schreibmaschine entwendet und haben sie ihm dann geschenkt. Ob er sie benutzt hat, weiß ich nicht.“

Eigentlich ist Gerhard Seyfried ein Mann des Ausgleichs. Viele seiner Geschichten beginnen kämpferisch und enden mit einer versöhnlichen Pointe. In München, Anfang der 70er, habe man aus dem Fenster einer Wohnung immer wieder gerne Wurfpfeile auf Polizeiautos geworfen. Die steckten dann im Dachblech. Einer der Kommissare, die mit der Verfolgung der linken Freaks betraut waren, hatte sein Büro mit Seyfried-Zeichnungen tapeziert. Oder dieser Polizist – ein Freund einer Freundin –, der ihn mal besuchte, weil er seine Comics so prima fand. Er brachte eine Flasche Wein mit und sagte, zunächst habe er ja Haschisch mitbringen wollen, aber dann habe er sich doch nicht so getraut als Beamter.

Nun doch mal zum Roman.

„Das Thema hat mich aus dem Hinterhalt erwischt.“ 1999 war er drei Wochen lang mit seiner Zeichnerkollegin Ziska in Namibia, um Vorträge über Comics im Sprachunterricht zu halten. Das Land hatte ihm sehr gut gefallen. Die Landschaft und so. Überall war er auch auf Überbleibsel der deutschen Kolonialherrschaft gestoßen. So hatte das alles angefangen. Dann begann er zu recherchieren, las kreuz und quer, entdeckte die Militärarchive. Anfangs habe er eigentlich nur eine Artikelserie veröffentlichen wollen. Am Ende hatte Seyfried über zweihundert Bücher zum Thema gelesen. Eine seiner wichtigsten Quellen war das Tagebuch eines Offiziers, Viktor Franke, der zwar mithalf, den Aufstand niederzuschlagen, aber entsetzt war über die dabei angefallenen Brutalitäten.

Vor allem sei es ihm um historische Genauigkeit gegangen. Alles ist korrekt, bescheinigen ihm Historiker. Seyfried hat versucht, alle Gegenwart zu vergessen und die Dinge aus der Perspektive eines braven, zurückhaltenden, schüchtern-romantischen, aber doch auch abenteuerlustigen Kartographen zu sehen, dessen Frau kurz zuvor gestorben ist. Afrika soll eine Art Neuanfang sein. In den Krieg kommt er zufällig, als Reservist.

C. S. Forrester war eins seiner Vorbilder. Hätte er mehr Geld gehabt, wäre er gerne länger in Namibia geblieben. Der Einband des Buches zeigt Reproduktionen alter Karten. Zwischendrin und sparsam gestreut historische Fotografien aus dem Kolonialarchiv sowie diverse von Seyfried gezeichnete Landschaften, Häuser, Festungen, Kanonen. Die Zeichnungen sind sehr genau und gleichzeitig auch poetisch.

Die Sprache ist eher konventionell. Nüchterne Beschreibungen reihen sich aneinander. Anfangs wirken die Personen etwas hölzern, später hat man sich dann an sie gewöhnt. Der Krieg wird als großes Durcheinander geschildert, in das die Helden eher zufällig geraten.

Sexualität kommt nicht vor, dafür ein, zwei hübsche Hanfpassagen. Die Herero-Perspektive geht vielleicht manchmal so leicht ins papalagihafte: In Deutschland, „so sagen manche, haben sie sich wie Erdferkel vermehrt, sodass gar kein Platz mehr für so viele ist, und sie müssen in kleinen Kisten aufeinander und übereinander schlafen, und darum sind sie jetzt hier, weil sie Platz zum Schlafen brauchen; aber wo die schwarzen Menschen sich niederlegen sollen, die doch zuerst hier waren, das ist ihnen ganz gleich.“

Die 7.000 Bände der ersten Auflage sind verkauft. Seyfried zeichnet seit längerem nur noch nebenbei, weil er kaum noch was damit verdient hatte. War der Wechsel schwierig? – Nicht so. Eigentlich habe er immer geschrieben. Für Zeitungen; über Comicmessen oft. Auch Drehbücher, die nie verfilmt wurden. Vor ein paar Jahren auch einen „Proberoman“, ein Kreuzbergtagebuch, so als Übung.

Das alte Kreuzberg sei so angenehm kleinstädtisch gewesen. Fast wie „Christiania“. Und nun wahrscheinlich der langweiligste Bezirk Deutschlands. „Und ich kenne hier niemanden mehr.“ Endlos kann er schimpfen über den Autoverkehr seit 89. „Kannst ja froh sein, wenn du zur Markthalle gehst, ohne umgefahren zu werden.“ Noch endloser geht’s gegen Bush und Blair, die vor Gericht gehören.

Am längsten reden wir beim Weggehen. Über den Hut und den Umhang des Anarchisten, übers Rauchen und die Assassinen und diese ganzen Dinge. Zwei weitere Romane aus der deutschen Kolonialgeschichte sind geplant, sagt Seyfried, wobei noch unklar ist, ob’s in China oder der Südsee weitergeht. „Übrigens: Wusstest du, dass es in Windhoek eine Kreuzbergstraße gibt?“