Regierung ohne Volk

Die Bevölkerung des Iran ist den Kommunalwahlen weitgehend ferngeblieben. Der Boykott ist Zeichen politischer Reife, die zur Demokratisierung des Staates führen kann

Die Wahlen haben das Ende der Ära Chatami und der Reform-versuche des Gottesstaates eingeläutet

Es war ein Schock für die Turban tragenden Herren – rund dreißig Millionen wahlberechtigte Iraner haben die Teilnahme an den landesweiten Kommunalwahlen verweigert. Erst vor vier Jahren gelang es den Reformern unter Staatspräsident Chatami, die Wahl von Stadt- und Gemeinderäten durchzusetzen. Die Entscheidung wurde mit großer Begeisterung aufgenommen, etwa siebzig Prozent der Wahlberechtigten hatten sich an den Wahlen beteiligt. Die Vertreter der Reformbewegung konnten einen triumphalen Sieg feiern.

Und nun dieses Debakel! Landesweit lag die Wahlbeteiligung bei 25 bis 30 Prozent, in der Hauptstadt Teheran sogar nur bei 14 Prozent. Kein einziger Kandidat der Reformbewegung konnte ein Mandat erringen. Die meisten Sitze fielen den konservativen Islamisten zu, nicht weil sie aus der Sicht der Wähler die besseren Kandidaten aufgestellt hatten, sondern weil ihre Stammwähler bei der Stange geblieben und dem Befehl ihrer Herren zur Stimmabgabe gefolgt waren.

Es ist erstaunlich, dass rund 30 Millionen Wähler, die den Urnengang verweigerten, zum gleichen Ergebnis gelangt sind, ohne sich zuvor verständigt zu haben. Einen Boykottaufruf hatte es nicht gegeben. Dieses Verhalten zeugt von politischer Reife. Sie ist Folge eines langen, schmerzlichen und mit vielen Opfern verbundenen Prozesses, ohne den es keine Freiheit, keine Demokratie geben kann. Die Demokratie lässt sich nicht herbomben oder durch fremde Statthalter einem Volk aufzwingen, wie uns Bush und Blair im Falle Iraks weismachen wollen. Sie kann auch nicht wie Coca-Cola importiert werden. Sie muss sich, wenn sie echt sein soll, aus der eigenen Geschichte heraus entwickeln. Selbstverständlich spielen die Erfahrungen westeuropäischer Gesellschaften eine große Bedeutung. Aber das Ergebnis, vor allem wenn es sich um islamische Staaten handelt, muss nicht identisch sein mit den im Westen herrschenden Demokratien, zumal auch hier nicht alles Gold ist, was glänzt. Wenn Regierungschefs wie die Großbritanniens und Spaniens Entscheidungen treffen können, die dem Willen von 90 Prozent der Bevölkerung widersprechen, dann ist dies kein erstrebenswertes Ziel.

Das iranische Volk hat zwar bald nach der Revolution von 1979 gemerkt, dass der Hut, den ihm die Mullahs aufgesetzt hatten, ein falscher Hut war. Es hat aber fast zwanzig Jahre gedauert, bis es begriffen hat, dass ohne die eigene Emanzipation, ohne die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Tradition, ja auch der Religion, despotische Strukturen nicht zu beseitigen sind.

Die Revolution hatte zum Sturz des Schah-Regimes geführt, die Substanz der Diktatur aber unberührt gelassen. Das Volk hatte dem Schah die Stirn geboten, sich aber gleich Chomeini zu Füßen gelegt. Als die Schah-Anhänger an die Wand gestellt und den Geheimdienstlern die Gedärme herausgerissen wurden, als den Frauen das Kopftuch aufgezwungen und Kindern und Jugendlichen die islamistische Ideologie eingehämmert wurde, zeigte sich unter den Massen kein nennenswerter Widerstand. Das Volk hat einen achtjährigen Krieg gegen den Nachbarstaat Irak über sich ergehen lassen, es hat Massenhinrichtungen erlebt und musste eine dauerhafte Bevormundung im öffentlichen und privaten Leben durch die selbst ernannten Stellvertreter Gottes erdulden. Doch irgendwann war ihre Geduld zu Ende: Das allmählich gewonnene Selbstbewusstsein, das vor allem dem Emanzipationskampf von Frauen und Jugendlichen zu verdanken war, führte zu einem kollektiven Nein.

Die Entscheidung der überwiegenden Mehrheit vor sechs Jahren, für Chatami zu stimmen, war in erster Linie eine klare Absage an die etablierte Macht. Chatami versprach Freiheit, Reformen und eine zivile Gesellschaft und leitete damit eine wichtige Phase der Geschichte der Islamischen Republik ein. Das Land öffnete sich nach innen und außen. Tatsächlich kam die zivile Gesellschaft zum Zug. Die Presse erlebte eine in der iranischen Geschichte einmalige Blüte, die Angst vor Repressionen verschwand, tausende von regierungsunabhängigen Organisationen wurden ins Leben gerufen. Die Reformbewegung eroberte auch das Parlament und die Stadt- und Gemeinderäte. Doch schon bald stieß diese Entwicklung an die vom System her festgesetzten Grenzen, auf den Widerspruch zwischen der Herrschaft des Volkes und der absoluten Herrschaft der Geistlichkeit, zwischen einer demokratischen Republik und einem islamischen Gottesstaat. Chatami konnte diesen Widerspruch nicht lösen, weil er selbst, trotz unermüdlichen Bekundungen zu einer zivilen Gesellschaft, an dem Gottesstaat festhielt, an das System des „Welajat-e Faghieh“. Sein großes Verdienst bestand darin, dass er durch das Beharren auf demokratische Strukturen den systemimmanenten Widerspruch zuspitzte.

Die Kommunalwahlen vom Februar haben das Ende der Ära Chatami und der Reformversuche innerhalb des Gottesstaates eingeläutet. Abermals hat die überwiegende Mehrheit des Volkes Nein gesagt, und dieses Nein galt nicht allein den Konservativen, sondern dem gesamten System. Deutlicher konnte die Botschaft nicht ausfallen. Die Wahl war die freieste, die bisher in der Islamischen Republik stattgefunden hat. Es gab keinerlei Ausgrenzungen von Kandidaten. Selbst verbotene Organisationen wie die „Freiheitsbewegung“ konnten ihre Kandidaten zur Wahl stellen. Wenn nun trotz dieser Zugeständnisse in der Hauptstadt Teheran unter zehn Wahlberechtigten nur einer zur Wahl gegangen ist, dann ist die Aussage mehr als deutlich.

Demokratie lässt sich nicht durch fremde Statthalter einem Volkaufzwingen

Die Konservativen haben keinen Grund, auf ihren „Sieg“ stolz zu sein. Die Wahl hat deutlich gemacht, dass ihre Basis auf weniger als zehn Prozent geschrumpft ist. Sie haben die Reformen blockiert, Vordenker der Reformbewegung verfolgt, die liberale Presse ausgeschaltet, zahlreiche Intellektuelle, Journalisten, sogar geistliche Reformer eingekerkert. Chatami hat versucht, mit ihnen Kompromisse zu schließen, und ist dabei gescheitert. Zu größeren Schritten oder gar einem Konfrontationskurs scheint er nicht fähig oder gewillt zu sein.

Die Wähler haben mit überwältigender Mehrheit einen Präsidenten gewählt, der machtlos ist, und den Reformern zur Mehrheit in einem Parlament verholfen, das von den Konservativen völlig lahm gelegt worden ist. Wozu also an einem Spiel teilnehmen, das ein falsches Spiel ist und bei dem die Gegenseite ungeachtet des Wahlergebnisses nur das tut, was sie will? Die Wahl wurde zur Farce. Der Boykott war die einzig konsequente Antwort, die das Volk den Machthabern erteilen konnte. Nun müssen die Herrschenden schauen, wie sie ohne das Volk regieren können. Es besteht kein Zweifel, dass der Demokratieprozess in Iran weitergehen wird, es sei denn, er wird durch Einmischung von außen aufgehalten. Das sollten sich Blair und Bush, falls sie nicht das Öl, sondern tatsächlich die Demokratie meinen, hinter die Ohren schreiben. BAHMAN NIRUMAND