Die gnadenlose Liebe

Angeschlossen an den Schmerz: Christina Paulhofer hat „Phädras Liebe“ in der Berliner Schaubühne inszeniert und wirft einen neuen Blick auf die Autorin Sarah Kane. Die Extreme, Wilde, Schmerzensreiche wird eingemeindet unter die Dichter der Klassik

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Wie sie noch lächelt – und weiß doch schon, es wird nicht gut gehen. „Wahnsinn ist furchtbar“, sagt Phädra und genießt dabei doch, außer sich zu sein. Sie kann in ihren roten Schuhen kaum einen Schritt gerade gehen, so tobt in ihrem Körper die Sehnsucht. Sie gerät in Ekstase, sie wirft ihre Amme zu Boden und reitet auf deren Rücken, träumend davon, mit Diana zu jagen. Mal ist es der eigene Körper, den sie zerreißt, mal auch ein anderer. Lange kann man Corinna Harfouch in „Phädras Liebe“ in der Schaubühne Berlin dabei zusehen, wie Schmerz und Lust miteinander verschmelzen. Süchtig ist sie nach Hippolytos und wir bald nach ihr.

Das ist schon das zweite Bild, das die Regisseurin Christina Paulhofer „Phädras Liebe“ von Sarah Kane vorangestellt hat. Die Szenen des Prologs stammen von Euripides. Im ersten Bild tritt hoch über der Bühne in einem Fenster die Göttin Aphrodite (Julia Jenkins) auf. Sie schwört Hippolytos, der einer anderen Göttin einen Tempel gebaut hat, Rache, und Phädra ist ihr Instrument der Vernichtung. Doch wie sich Aphrodite heiß redet, wie die Fantasie der Vernichtung sie schauern lässt und wie sie genüsslich badet in einem Strom roter Farbe, erhält man ein erstes Bild von dem, was dann immer schärfer fokussiert wird.

Einen kurzen Moment lang erinnert dieser Prolog an die „Orestie“, mit der Peter Stein vor über zwanzig Jahren eine Relektüre der Antike an der Schaubühne anstieß. Plötzlich tauchten hinter den männlichen Heroen der Kultur überall entmachtete und wutschäumende Göttinnen auf, die weiblichen Leichen im Keller der patriarchalen Gründung des Abendlandes. Sehr lang scheint diese Aufregung her, und Mikroports trug damals noch keiner.

Bisher markierten die Stücke von Sarah Kane eher einen Bruch mit der Tradition. Die deutschen Erstaufführungen brachten Thomas Ostermeier, heute Intendant an der Schaubühne, frühe Anerkennung. Kanes Szenarien standen für eine hypertrophe Gegenwärtigkeit, einen verzweifelten Kampf, im Hier und Jetzt mit allen Sinne anzukommen.

Mit Geschichten von Grausamkeit und sexuellen Obsessionen suchten sie eine Steigerung der Wahrnehmung, eine Fleischwerdung der Gedanken. Das Mitleiden des Zuschauers war die Rezeptionsform, mit der Kane ihn aus einer abgestumpften Gleichgültigkeit reißen wollte. Erst in ihren letzten Stücken nahm die Autorin etwas von diesem Angriff zurück. Bilder blieben Bilder in der Sprache. Von dort aus ändert sich der Blick auf die ersten Stücke, zu denen „Phädras Liebe“ gehört.

Sarah Kane hat sich durch ihren Selbstmord selbst zu wenig Zeit gegeben. Ihre Stücke, nahe an der Depression und dem Verlust des Selbst gebaut, hatten keine große Chance, dieses Hineinbohren in den Schmerz und damit in einen subjektiven und nach außen kaum durchlässigen Raum zu überschreiten. Die Inszenierung von Christina Paulhofer wirkt wie ein Versuch der Tröstung über dieses verpasste Leben. Sie markiert die Möglichkeiten einer Befreiung aus der klaustrophobischen Hölle des Ich. Der Vorlauf gibt Zeit dazu: dem Zuschauer, um im Stück anzukommen; den Darstellern, ihre Figuren als Transformationen auf einem Weg zu begreifen, der vor ihnen begonnen hat und nach ihnen weitergehen wird; dem Stück, sich in der Geschichte zu spiegeln. Das Gnadenlose und Extreme von „Phädras Liebe“ ist so leichter zu ertragen.

Doch das ist zugleich auch ein Verlust. So eingebettet verliert die minimalistische Ökonomie der Sprache Kanes an Klarheit und Schärfe. Ihre Figuren sind Meister der Verletzung über eine Kurzstrecke: Mit so wenigen und oft noch so abgegriffenen Worten so genau auf die Schwächen des anderen zu zielen, so präzise dort einzudringen, wo die Abwehr am nötigsten ist, das zeichnet auch Hippolytos aus.

Hippolytos ist ein zynisches Monster und ein Romantiker; eine gar nicht so seltene Kombination in den Strategien des männlichen Selbstschutzes. Lars Eidinger verleiht diesem verwöhnten Riesenbaby, das sich für das Leben erst zu begeistern vermag, als es ans Sterben geht, eine ziemliche Glaubwürdigkeit. Er ist dem Mief des Kinderzimmers nie entwachsen. Zum Zyniker ist er leicht geworden im Palast, der Beziehungen nach Nutzen strukturiert. Unentwegt hält er die Videokamera auf sich selbst gerichtet und erstickt an dieser Selbstbezüglichkeit. Da braucht er gar nicht mehr, wie noch in Kanes Szenenbeschreibung, unentwegt alte Socken vollwichsen.

Trotzdem hat er Ideale: Wahrhaftiger zu sein als alle anderen zum Beispiel. Und über Leiden doch noch in einer Realität außerhalb des Palastes anzukommen. Für Sarah Kane war dieser Weg wichtig, um dem Verlust des Selbst vorzubauen: „Angeschlossen an sich selbst“, nannte sie den Extremzustand des Schmerzes. Dem liegt ein Bild christlicher Erlösungsfantasien zugrunde, eine Lust am Opfern. Wie paradox das ist, wissen die Figuren, und daraus bezieht die Inszenierung einen seltsamen Witz.

Sarah Kane vom Label einer ewig jungen Autorin zu befreien und unter die Klassiker einzugemeinden, das ist ein ehrenwertes Unterfangen, was man von Christina Paulhofer, gebucht auf Popästhetiken, nicht gerade erwartet hat. Es ist eine Möglichkeit, Kanes poetische Sprachmacht herauszustellen. Andere Lesarten werden sicher folgen, jetzt, wo ihre Rezeption nicht mehr von der Atemlosigkeit der Gegenwart bestimmt wird.