„Sucht ist keine Krankheit“

Der Bremer Drogentherapeut Lorenz Böllinger weiß, was Drogenabhängigen am meisten schadet: Weniger die Substanzen sind es, sondern deren Verbot und die falsche Beratung

Etwa zwei Drittel aller Abhängigen hören irgendwann von alleine auf

taz ■ Der Bremer Juraprofessor und Psychotherapeut Lorenz Böllinger hält die Politik der strafrechtlichen Drogenprohibition für gescheitert. Sie sei kontraproduktiv und schädige Bürger, die von einem grundgesetzlich gewährleisteten Freiheitsrecht Gebrauch machten. Er hält eine drogenfreie Gesellschaft für undenkbar und plädiert für eine staatliche Regulierung von Herstellung, Vertrieb und Gebrauch illegaler Drogen sowie eine umfassende Drogengebrauchskunde an Schulen.

taz: Sie treten für die vollständige Legalisierung von Drogen ein?

Lorenz Böllinger: Ja. Ich meine damit aber nicht, Drogen sollten frei verkäuflich sein. Was wir brauchen, ist eine Möglichkeit der staatlichen Regulierung von Herstellung, Vertrieb und Gebrauch von Drogen. Cannabis sollte völlig legalisiert werden, ähnlich wie in Holland, wo es zwar nicht legal, aber zumindest geduldet und frei verkäuflich ist.

Sollte das für alle Drogen gelten?

Riskantere Drogen wie Heroin, Kokain und Ecstasy sollten dagegen nur auf Rezept und nach ärztlicher Beratung erhältlich sein, allerdings für jedermann, nicht nur für bereits Abhängige. Die größten Schäden durch Drogenkonsum gehen nicht auf die Substanzen selbst, sondern auf die Kriminalisierung und die damit einhergehenden Risiken wie unsicheren Konsum und schlechte Qualität zurück. Auch die volkswirtschaftlichen Schäden sind enorm: in Deutschland schätzungsweise 30 Milliarden Euro pro Jahr.

Was halten Sie generell von der Unterscheidung zwischen harten und weichen Drogen?

Sie ist irreführend. Es ist bekannt, dass medizinisch sachgemäßer Heroinkonsum völlig unschädlich ist, abgesehen von vorübergehender Verstopfung und Impotenz. Alkohol und Tabak sind da wesentlich schlimmer. Man wird von Heroin auch nicht so schnell abhängig, wie oft behauptet wird. Man müsste sich schon 14 Tage lang jeden Tag eine volle Dröhnung mit steigender Dosierung geben, um süchtig zu werden. Auch hören etwa zwei Drittel aller Abhängigen, völlig gleich von welcher Droge, irgendwann von alleine auf. Sie „wachsen heraus“ aus der Sucht, weil sich zum Beispiel ihre Lebensumstände geändert haben, oder weil sie gereift sind und die Droge nicht mehr brauchen.

Was ist denn mit denjenigen, die immer wieder versuchen aufzuhören und dann rückfällig werden?

Keine Krankheit lässt sich von heute auf morgen heilen.

Halten Sie Drogensucht für eine Krankheit?

Drogensucht ist keine Krankheit, sie ist nur ein Symptom, zum Beispiel für persönliche Defizite und psychische Störungen. Laut einer Studie unter Vierzehnjährigen, die unter anderem auch in Bremen durchgeführt wurde, haben etwa 40 Prozent der Jugendlichen Drogenerfahrungen oder interessieren sich dafür. Das waren Personen, die auch zu anderen riskanten Verhaltensweisen neigten, die zum Beispiel klauten oder ihre Mopeds frisierten. Nur fünf Prozent dieser Jugendlichen waren aber dem Risiko ausgesetzt, dauerhaft zu entgleisen und süchtig zu werden.

Gerade die Gruppe der Kinder unter 14 verzeichnet aber den höchsten Anstieg an erstauffälligen Konsumenten harter Drogen.

Das könnte auf verstärkten Polizeieinsatz bei der Drogenfahndung oder eine höhere Aufmerksamkeit für dieses Thema in der Öffentlichkeit zurückzuführen sein. Erfahrungsgemäß steigt die Zahl der drogenerfahrenen Jugendlichen an den Schulen an, an denen die Polizei vorher Aufklärung mit dem erhobenen Zeigefinger betrieben hat. Was wir brauchen, ist eine Drogengebrauchs- und keine Drogenverbotskunde an Schulen – die wirkt kontraproduktiv. Eine Sucht wird nie durch die Substanz allein bedingt, sondern durch das Zusammenwirken vieler verschiedener Faktoren. Till Stoppenhagen