Eine echte Stärkung

Fünf Fragen zu den Grundrechten in der Europäischen Union

taz: Herr Kaleck, die beim Gipfel in Nizza verabschiedete Grundrechtecharta soll Teil der geplanten EU-Verfassung werden. Ist das ein großer Fortschritt für ein rechtsstaatliches Europa?

Wolfgang Kaleck: Derzeit ist die Grundrechtecharta nur ein unverbindliches Stück Papier, das macht wenig Sinn. Ein Beispiel: Ich vertrete deutsche Globalisierungskritiker, die an der Reise zu einer Demonstration in Genua gehindert wurden, vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Als sie sich auf die in der Charta verankerte Freizügigkeit beriefen, beschied uns das Gericht, diese sei derzeit noch nicht relevant. Es wird sich zeigen, ob mit einer verbindlichen und einklagbaren Charta alles besser wird. Es hängt dann von den Gerichten und nicht zuletzt von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab, wie stark Gesetzgeber und Behörden in die Rechte der Bürger eingreifen können.

Durch „Richterrecht“ hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ja bereits viele Grundrechte gegen EU-Akte geschaffen. Geht die Charta inhaltlich darüber hinaus oder macht sie nur den Stand des Erreichten transparent?

In den ersten Jahrzehnten war die EU vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft. Deshalb hat der EuGH zu vielen Fragen der europäischen Zukunft nichts gesagt. Insofern ist es gut, dass die Charta nun auch zum Datenschutz oder zur Bioethik Stellung nimmt und einige soziale Grundrechte festschreibt. Allerdings bin ich im Konkreten oft nicht zufrieden. So müsste nicht nur das reproduktive, sondern auch das therapeutische Klonen verboten werden, der Datenschutz müsste konsequenter sein und die Freizügigkeit sollte nicht nur EU-Bürgern, sondern auch hier lebenden Menschen aus Drittstaaten gewährt werden.

Sollte deshalb der Inhalt der Charta neu ausgehandelt werden?

Die Sozialdemokraten aus SPD und PDS sagen uns, dass derzeit kaum mehr als das Vorliegende zu erreichen ist. Mir ist das zu pessimistisch. Es gilt, immer mehr demokratische und Menschenrechte zu erkämpfen als gerade gewährt werden.

Muss es für europäische Grundrechte neue Klagewege geben?

Unbedingt. Die Bürgerklage gegen EU-Rechtsakte muss generell erleichtert werden, und gegen nationale Gerichtsurteile muss eine Grundrechtebeschwerde zum EuGH eingeführt werden. Daneben soll das bisherige Vorlagerecht der nationalen Gerichte natürlich bestehen bleiben.

Neben der EU-Grundrechtecharta gibt es ja auch noch die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates. Wie ist deren Verhältnis?

Die Ausarbeitung einer speziellen EU-Charta hat mich zunächst misstrauisch gemacht. Man hatte den Eindruck, die EU will vermeiden, die bewährte Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen. Jetzt ist aber wohl beides geplant: ein EU-interner Grundrechtsschutz durch den Luxemburger EuGH auf Grundlage der Charta und eine anschließende Kontrollmöglichkeit durch den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Das könnte eine echte Stärkung für die Grundrechte bringen.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH