Bald ist wieder Oscar-Zeit

Am Schauspiel Hannover wurde Réjane Desvignes’ und Igor Bauersimas „Film“ uraufgeführt. Auch die Inszenierung kann dem Stück die Bedeutung nicht aufzwingen, die es so konsequent vermeidet

von SIMONE KAEMPF

Im Appartement der gealterten Diva kündigt sich die Katastrophe in filmreifen kleinen Schritten an: Der Catering-Service ist im Eisregen verunglückt, die restlichen Gäste sind ebenfalls verschollen, die Damen frieren in ihren dünnen Abendkleidern, da fällt auch noch die Heizung aus. Während ein Alleinunterhalter für die kleine Partygesellschaft auf seiner Orgel klimpert, meint man schon die „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“-Melodie vom eskalierenden Abend mehrerer eingeschlossener Paare zu vernehmen. Ausgerechnet ein Pizzafahrer erscheint noch. Lauter klassische Situationen aus der Feder amerikanischer Drehbuchschreiber. Eigentlich müsste man sich fragen: „Wo ist die Leiche?“ Und genau deshalb stellt man sich die Frage nie. Es ist in dieser Inszenierung praktisch nicht vorstellbar, dass auf der Bühne etwas Schreckliches passieren wird.

„Film“, das neue Stück von Igor Bauersima und Réjane Desvignes, das Bauersima selbst am Schauspiel Hannover zur Uraufführung gebracht hat, balanciert beständig mit Zitaten, Verweisen, Stimmungen der Filmgeschichte, aber es spielt so ziellos mit den Ideen des naturalistischen Kinos, dass ihm alle Effekte entzogen sind. Die Figuren sind leidlich im Filmgeschäft beschäftigt, auf den dämpfenden Teppichen im Appartement der Starschauspieler weiß man sich selbstsicher im Partygeplauder zwischen der Bar und den loungeartigen Sitzgruppen zu bewegen. Jeder darf zwischendurch in kleinen Traumsequenzen nach vorne treten, um schon mal seine Oscar-Dankrede zu üben. Komödiantisches folgt auf melodramatische Szenen. Von Hitchcock kommt das Offenbarwerden einer Untat, die hier freilich der reinen Unterhaltung dient: Als sich der eingeladene Filmkritiker als brutaler Gangster entpuppt, gibt es für die Anleihen aus dem Krimigenre kein Halten, aber das ängstliche Agieren inmitten der Situationskomik kann dem Stück die Bedeutung nicht aufzwingen, die es konsequent vermeidet.

Es ist, als ob der Regisseur, so ironisch wie Pathos eben nur sein kann, die eigene Film-Sozialisation auf der Bühne nachverhandelt – und die Zuschauer dabei zu einiger Komplizenschaft nötigt. „Es ist nicht die Erzählung, sondern das Arrangement, nicht das Drama, sondern die Komposition, die seine Arbeit bestimmt“, ist im Programmheft über Federico Fellini zu lesen. Den Satz scheint sich Bauersima an sein Regiepult geklebt zu haben. Und aus „Achteinhalb“ von Fellini hat Bauersima auch seinen Regisseur Frank, der auf der Party eigentlich von seinem nächsten Filmprojekt erzählen soll und nur mit hohlen Worten seine künstlerische Ratlosigkeit maskiert. Woher die Kraft zum Leben und die Möglichkeit zum Umschwung kommt, wie es Fellini beschäftigte, bleibt in Hannover bei Matthias Neukirch als nur leicht kriselnder Regisseur im Unklaren. In der bunt gestylten Seifenoper-Fernsehwelt stellen die Figuren ihren krankhaften Individualismus zur Schau; ein Geheimnis bleiben sie schuldig – wie es die ganze Inszenierung schuldig bleibt.

Nicht, dass die Individuen hier nicht genau in den Blick genommen werden. An den Bartresen hat der in die Verbindung von Bühnen- und Filmgeschehen verliebte Regisseur Bauersima eine Leinwand aufgespannt, auf denen die Gesichter der Schauspieler immer wieder in Großaufnahmen gezeigt werden: kein voyeuristischer Kamerablick, keine Ausweitung des Theaterraums, nur Videoeinspielungen, die nicht mehr als ein hübscher ästhetischer Effekt sind. Matt sinken die Bilder der rauchenden und redenden Menschen als Hommage an Fellini zurück und verlieren sich in Bedeutungslosigkeit. Auf dieser Leinwand laufen auch die schwarz-weißen Standbilder, mit denen der Pizzafahrer anstelle des Regisseurs seine skurrile Filmidee erzählt: Wir sehen einen Mann, der dank einer Geheimrezeptur in die Vergangenheit reist, um die Zukunft mit seiner Jugendliebe neu einzufädeln. „Deswegen liebe ich Filme, da läuft die Zeit vor- und wieder rückwärts“, heißt es dazu. Ein Satz wie eine melancholische Theater-Antithese aus vergangenen Zeiten. Mittlerweile hat der Film ja das Theatergeschehen weitergetrieben. Aber davon kann man in „Film“ nur ahnen.