Mit neuem „Njet“ auf altem Kurs

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Bis Anfang Februar funktionierte die Arbeitsteilung in der russischen Außenpolitik reibungslos. Außenminister Igor Iwanow spielte den Part des nationalen Hardliners, streng antiamerikanisch und immer noch ein wenig großmäulig. Das befriedigte innenpolitisch die großrussischen Patrioten und erhöhte den Druck außenpolitisch, wenn erforderlich. Präsident Wladimir Putin, der nicht zufällig am 11. September der Antiterrorkoalition beigetreten war, empfahl sich anschließend als mäßigende und pragmatische Kraft, die der Westen einfach unterstützen musste, wollte er es nicht wieder mit Russlands antiwestlichen Traditionalisten zu tun bekommen.

Als Igor Iwanow Anfang der Woche ankündigte, Russland werde sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über eine neue Irakresolution keineswegs der Stimme enthalten, sah es zunächst nach dem üblichen Rollenspiel aus. Dennoch hatte Moskau so apodiktisch bisher keine Stellung bezogen. Gerade auf Iran-Besuch, verriet der Außenminister dem Präsident in Teheran, Mohammed Chatami, überdies, Russland würde gerne eine globale Antikriegsallianz schmieden. Selbstverständlich auch mit dem Iran, dessen Kooperation mit Moskau im Atombereich Washington seit langem ein Dorn im Auge ist. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie.

Putin – auf neuem Kurs?

Hatte sich Iwanow vorher mit Putin abgesprochen oder eigenmächtig gehandelt? Bisher hat sich der Kreml-Chef nicht zu Wort gemeldet. Am Mittwoch unterdessen gab sich der stellvertretende Außenminister Georgi Mamedow in Tokio schon wieder ein stückweit versöhnlicher. „Russland hofft, den Gebrauch des Vetos zu vermeiden“, sagte Mamedow gegenüber japanischen Medien. Das würde den „Kollaps der diplomatischen Anstrengungen bedeuten“.

Alles wieder offen? Russische Beobachter fürchten, Putin verlasse Schritt für Schritt den im September 2001 eingeschlagenen proamerikanischen Kurs. Der Kreml-Chef war schon damals ein einsamer Rufer in der russischen Ebene, der mit dem Kooperationsangebot in der russischen Elite identitätszersetzende Irritationen hervorrief. Putins „kopernikanische Wende“ nannte Beobachter Andrei Piontkowski von der Nowaja Gaseta den für russische Vorstellungskraft damals ungeheuerlichen Vorgang. Denn Russlands Elite könne sich mit dem Wertekanon des Bin-Ladenismus eher anfreunden als mit der amerikanischen Lebensphilosophie. Der Widerstand in der Armee, dem Außenministerium und innerhalb der oligarchischen Wirtschaftsclans war massiv. Nur hütete sich jeder, als Erster den Kopf herauszustrecken.

Iwanows Auftritt könnte das Zeichen zum Rollback gewesen sein. Im Gespräch mit der taz meinte Piontkowski, das Veto signalisiere einen erneuten außenpolitischen Kurswechsel und sei ein Sieg der antiamerikanischen Kräfte. Ein Tor sei, wer nun glaube, vor dem Hintergrund der Antikriegsachse Paris–Berlin–Moskau würde in Russland auch die Fraktion der Befürworter einer eurozentristischen Orientierung gestärkt. Die Europäer haben im russischen Establishment außer ein paar Intellektuellen keine einflussreichen Parteigänger. Russland wird noch nicht zu einem Verbündeten Europas, nur weil man zurzeit gemeinsam an einem Strang zieht. Kurzum: Mit den antiamerikanischen Kräften hat die gesamte antiwestliche Partei in Russland einen Sieg errungen.

Das Außenministerium witterte seine Chance und nutzte das Schisma im Westen, um die nach dem Zusammenbruch der UdSSR zur Lieblingsidee gewordene „multipolare Weltordnung“ wieder aufzuwärmen. Sie schien längst ausgedient zu haben, bevor Frankreichs Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder den Kreml-Chef aktiv für die Antikriegsallianz anwarben. Was ihnen dabei verborgen blieb: Der taktische Vorstoß bereitete gesellschaftpolitisch rückwärts gewandten Kräften in Russland wieder den Boden. Selbstverständlich weiß auch die außenpolitische Elite, dass Paris und Berlin im Ernstfall auf absehbare Zeit nicht von der Seite Washingtons weichen werden. Auf Rücksichtnahme kann Moskau – ein Partner auf Zeit – im Konfliktfall kaum bauen, in der Not stünde es alleine dar. Würden die Europäer, sollte Russland in Asien bedroht werden, Moskau zur Hilfe eilen?

Das Veto – eine Dummheit?

Im Selbstverständnis der russischen Elite stellt Moskau einen eigenen, selbstständigen und autarken Kosmos dar, der keiner Bündnisse bedarf. Vom europäisch-amerikanischen Streit – Kant oder Hobbes – ist dieses mystisch verklärende Weltbild noch weit entfernt.

Die Westorientierung Putins verfolgte unterdessen ein übergeordnetes Ziel: Der Kreml sah darin eine Möglichkeit, schneller in die Weltwirtschaft integriert zu werden. Nur darüber kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung Russlands gelingen.

Erst ein wirtschaftlich mächtiges Russland wird auch auf der internationalen Bühne eine Schlüsselposition zurückerobern. Der Schulterschluss mit dem Westen war daher nicht mit einem endgültigen Verzicht auf geopolitische Interessen gleichzusetzen oder mit einem Bekenntnis zum westlichen Wertekanon. Er spiegelte aber eine Befreiung vom ideologischen Ballast und einen erweiterten Realitätssinn wider. Moskau bescheidet sich mit dem zweiten Platz in der internationalen Rangordnung hinter den USA – aber vor den Europäern. Dazu wäre Putin auch bereit gewesen, sich mit einer „binären Unilateralität“ – sozusagen auf dem Rücksitz des amerikanischen Tandems – abzufinden. Und tatsächlich ist seit dem 11. September ein Anstieg amerikanischer Investitionen zu beobachten.

Die Aussicht auf Modernisierung könnte nun zur Disposition stehen. Das meint auch Wjatscheslaw Nikonow vom Moskauer Thinktank „Politika“: „Aus russischer Sicht ist ein Veto reine Dummheit.“ Europa könne die Bedeutung der USA für Russland nie ersetzen, die eben auch sicherheitspolitisch als einziger strategischer Partner in Frage kommen.

Nicht gelten lässt Nikonow innenpolitische Motive für ein Veto. Als gängiges Argument führen die Kriegsgegner Russlands Muslime ins Feld, die sich von Moskau vor den Kopf gestoßen fühlen müssten. Da die muslimische Gemeinde auch im hausgemachten Tschetschenienkrieg bisher stillgehalten hat, scheint dieser Einwand nicht stichhaltig. Und bis zu den Duma- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Dezember und März nächsten Jahres ist der Waffengang im Irak längst vergessen, meint Nikonow. Was sind dann die Gründe für die Haltung des Kreml? Wachsender Druck der antiwestlichen Entourage des Präsidenten …?

An dem tragen die USA eheblich Mitschuld, die Putin den Weg nach Bagdad und in die Partnerschaft nicht gerade geebnet haben: „Washington hat nicht genug getan, um eine Garantie zu leisten, dass ein neues Regime die Schulden des Iraks an Russland zurückzahlen und russische Interessen in den Ölfeldern berücksichtigen wird“, glaubt Nikonow. Mehr als ein halbes Jahr nach Kontaktaufnahme sind beide Seiten da keinen Schritt vorwärts gekommen.

Das untergräbt die Glaubwürdigkeit des russischen Präsidenten, der die Widersacher im Wahljahr nicht mit guten Worten auf Distanz halten kann. Bereits Ende Januar stellten Beobachter einer Konferenz der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung fest, dass die „Partei der Macht“ den Kreml-Chef eines Anpassungskurses bezichtige und nicht davor zurückschrecke, seine Position zu untergraben.

Das muss den Präsidenten beunruhigen, der zwar bei den Wählern hoch im Kurs steht, ansonsten aber auf keine Hausmacht verweisen kann.

Russland steht vor einem Paradox. Entscheidet es sich mit dem alten Europa gegen einen Waffengang im Irak, handelt es wohl zugleich gegen die Interessen einer schnellen Modernisierung und Integration in die Weltwirtschaft.