Major Tom und Private Home

Das Spiel ist aus, so steht es in den Büchern der „Armed Service Edition“, die die US-Soldaten bei ihrem Einsatz an der Front begleiten sollen. Über die allmähliche Verfertigung des Krieges beim Warten – ein fiktiver Aufmarsch im Herz der Drohkulisse

von JÜRGEN BERGER

US-Soldaten trainieren den Wüstenkampf und sind gehalten, in der „Armed Service Edition“ zu lesen. Exemplare der Frontausgabe ausgewählter Weltliteratur werden in der Seitentasche des Kampfanzuges mitgeführt, wenn die Army vom Südirak in Richtung Bagdad vorrückt. Private Home ist einer jener Dienstgrade, die für die Desinformation des Feindes zuständig sind und eigene Soldaten mit Lesestunden und Theater bei Laune halten – während nirgendwo ein Feind zu sehen und unklar ist, ob der ABC-Schutzanzug vor feindlichen Kampfstoffen oder dem Golfkriegsyndrom schützen soll.

Fort Irwin, Death Valley

Die Zeit wird knapp. Siebzig Meter unter dem Meeresspiegel steht die Luft. Und dann haben die Jungs auch nur die 91er Version des Chemical Warfare Suit. Ist ja nur eine Übung hier in Fort Irwin, und der Major meinte bei der letzten Besprechung, am Golf erhalte jeder die neueste Version. Die wiegt halb so viel und man soll sich durchaus kommod fühlen. Dummerweise mussten kürzlich 800.000 wieder eingezogen werden. Kleine Löcher im Gummi. Major Tom W. Shrub meinte nur: „Kein Problem. Wir müssen das sowieso klarmachen, bevor der Bastard in Bagdad einen Knopf drückt.“ Da hat der Major unsicher gelacht und kurz hinter sich gesehen, als habe er Angst. Der Sergeant grinste nur mürrisch und meinte, das sei auf keinen Fall ein Problem. Das könne gar kein Problem sein. Das Problem sitze in Europa. Dort sei der Feind, und mit dem halte er es wie der alte Clausewitz. „Der Feind ist kein Feind, wenn du seine Schwächen kennst. Also lies, was der Feind schreibt. Wer schreibt, ist schwach. Und wer liest, was Weicheier schreiben, weiß, wo sie zu packen sind. Private Home, das übernehmen Sie!“

Private Home bin ich. Abi Home, um genau zu sein. Können sie sich vorstellen, was für einen Scheißjob ich habe. Jungs bei Laune halten, die entweder wieder heim zur Familie oder endlich dem Feind einheizen wollen. Mit der guten Laune ist das so eine Sache bei 30 Grad im Schatten. Dante fiel mir ein und die „Comedia“. Die ist zwar ziemlich alt, könnte aber in die Gegend passen – Dante’s View and so on. Aber dann stieß ich auf Stellen wie „Im Elend sich vergangnen Glückes erinnern müssen, ist der größte Schmerz“. Mal ehrlich. Die „Comedia“ baut nicht auf, sie macht depressiv. Das ist nicht gut für die Jungs. Wer depressiv ist, denkt, und das kann nicht gut sein.

Dann fiel mir Gott sei Dank ein etwas jüngerer Europäer in die Hände. So ein Ire mit Furunkeln, der ein Stück geschrieben hat, in dem es immer so geht: „Was sollen wir jetzt machen?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Komm, wir gehen.“ – „Wir können nicht.“ – „Warum nicht?“ – „Wir warten auf Godot.“ Die Jungs fanden es lebensnah, der Sergeant auch. Nur der Major hatte was dagegen. Dann kam der Befehl zum Ausrücken.

Camp Doha, Kuwait

Bei 35 Grad ist es so was von gleichgültig, ob du in einem schweren oder einem leichten Gummianzug steckst. Du steckst in einem Gummianzug. Spätesten Ende März hält es kein zivilisierter Mensch mehr hier aus. Okay, der Araber vor Ort ist freundlich, keine Frage. Aber unsere Jungs sind trotzdem sauer. Sie sind richtig sauer. Immer nur rein ins Warfare Suit und üben, obwohl der kleine Shrub, wie der Major von der Mannschaft genannt wird, schon vor Wochen gesagt hat: „Das Spiel ist aus“. Auch da hat Sergeant Daniel Minefield nur gegrinst und gemeint: „Manchmal ist das Spiel auch offen.“

Können Sie verstehen, dass der Sergeant mir näher steht. Der Major ist schnell beleidigt und nimmt alles persönlich. Der Sergeant dagegen grinst und hat manches schon früh sehr geahnt. Oder wären sie darauf gekommen, für die Jungs eine C-17 mit Erfrischungstüchern aus Good Old Europe einfliegen zu lassen? „Scheiß auf die Resolution“, sagte der Sergeant. „Lasst den 4711-Ramsch einfliegen. Wenn die Jungs sich schon nicht den Arsch aufreißen dürfen, sollen sie ihn sich wenigstens wie Gentleman abwischen. Private Home, übernehmen Sie das.“

Der Sergeant hat was Praktisches, der Major hat Visionen. Und hat der Major Visionen, haben Sie ein Problem. Natürlich ist auch ihm aufgefallen, dass die Jungs nicht mehr zu halten sind und ich dachte schon, wir dürften zur Beruhigung mit dem Furunkel-Iren weitermachen. Aber nein, der Major reist ja, anders als die Jungs, am Wochenende heim zur Familie. Ich glaube zwar, dass er gar nicht heim will. Er muss aber. „Nehmen sie das, Private Home“, hat er dann am Montag gesagt, und mir was von einem ganz alten Europäer in die Hand gedrückt. „Meine Tochter beschäftigt sich gern mit Geistigem und liest das gerade auf dem College. Da muss es ja was taugen.“ Ob der Major einen Blick reingeworfen hat? Ich weiß nicht!

Es geht um eine Truppe uralter Europäer, die endlich losschlagen wollen, aber an einem Strand vergammeln. Eigentlich müssen sie nur noch kurz rüber übers Meer und alles regeln, aber ausgerechnet jetzt gibt es keinen Wind. Der Major der Strandarmee sieht ziemlich alt aus. Kannst du ja auch nicht machen, die Jungs in den Sand setzen und wie Dörrleichen trocknen lassen. Dann allerdings will er die eigene Tochter opfern. Vaterland und so. Okay, wir machen das jetzt, sagt er, obwohl ihm nicht ganz wohl bei der Sache ist. Aber irgendwie hat er dann doch mehr Angst vor den eigenen Jungs als vor der Gattin. Die tobt, kann aber nichts ändern. „Nein vor dem Heere ziemte dir ein wackres Wort: Achaier, wollt ihr segeln nach dem Phrygerland? So werft das Los denn, wessen Tochter sterben soll. Das wäre billig, aber nicht, dass du dein Kind als auserwähltes Opfer botst den Danaern.“

Nicht schlecht für eine Mutter, aber bring das mal Jungs bei, die in der Hitze schmoren. Nichts tut sich, obwohl du genau weißt, da draußen streunt ein randalierende Eber, der auf den Blattschuss wartet. Der Sergeant hat zwar noch mal gesagt, ich solle diesen „Boar of Bagdad“ nicht so ernst nehmen. Wichtiger sei, wie wir die Typen in Europa loswerden. Aber werden Sie die mal los.

Basra, Irak

Kein Feind nirgends. Inzwischen ist März und wir sind, wo wir hin wollen. Die Jungs haben jetzt allerdings so merkwürdige Anwandlungen. Das kann mit den 40 Grad im Schatten zu tun haben. Merkwürdig ist nur – den Jungs wird immer kotzübel, sie haben Angstanfälle und reden manchmal Unsinn. Ähnliche Symptome hatte der Major zwar schon, bevor wir gelandet sind. Hier allerdings sollte die innere Kohlefilterschicht der Warfare Suits eigentlich alles filtern. Gegen irgendetwas hier scheint unsere Joint Service Lightweight Integrated Suit Technology allerdings keine Chance zu haben. Der kleine Shrub meinte, dieser Bastard aus Bagdad habe Uran in der Wüste verbuddelt. Und Sergeant Minefield sagte, wer ein Omelett wolle, müsse nun mal Eier zerschlagen. Das Wüstenei hier allerdings ist irgendwie faul.

Die Jungs sind so schlapp, dass du ihnen nicht mehr mit alten Europäern kommen kannst. Am Wochenende, als der Major wieder bei der Familie war, genügte ein Blick des Sergeant und wir haben die Bücher entsorgt. In Basra fällt das nicht auf. Seit 91 liegt hier genug Müll rum. Außerdem habe ich mir gesagt, was brauchen wir die alten Europäer. Jeder der Jungs hat eine Bibel im Marschgepäck. Was will man mehr. Wer die Bibel hat, kann nicht irren. „Private Home“, meinte da der Sergeant. „Das ist okay, aber lesen sie mit den Jungs auf keinen Fall das Alte Testament. Das ist zu alt. Und im Neuen Testament auf keinen Fall die Johannesoffenbarung. Die ist zu lang. Die Evangelien können sie auch vergessen. Zu depressiv. Nehmen sie was Leichtes. Nehmen sie einen von den Paulusbriefen.“

Ich habe den Brief an Titus genommen – und zum ersten Mal am Sergeant gezweifelt. Sonst weiß er ja, was gut für die Jungs ist. Dieses Mal allerdings weiß wohl nicht einmal er, was das mit diesem falschen Propheten auf Kreta soll, der behauptet, alle Kreter seien Lügner, obwohl er selbst ein Kreter ist und das mit den lügenden Kretern nur um des schändlichen Gewinnes willen lehrt, wie Paulus sich ereifert. Offen gesagt: Ich habe nichts verstanden, und von den Jungs hat auch keiner was verstanden. Wer studiert schon Theologie, bevor er zur Army geht.

Am Montag hatte ich den Eindruck, dass die Jungs zum ersten Mal froh waren, als der Major wieder aus dem Wochenende zurückkam. Er wirkte, als habe er einen Entschluss gefasst. „Wir marschieren los, und zwar sofort“, meinte er knapp. Die Jungs also rein ins Warfare Suit und ich rauf zum Major, wo er wieder auspackte, was seine Tochter gerade liest. Eine uralte Geschichte, die ein paar Kilomter von Basra entfernt spielen soll. „Da kommen wir demnächst durch“, hat der Major gesagt. „Sehen sie mal, Private Home, ob sie was für die Jungs finden.“

Weit gekommen bin ich nicht. Gleich am Anfang belagert ein gewisser Aga eine Stadt Uruk, wird allerdings von einem gewissen Gilgames besiegt, der so eine Art Uruk-Major ist. Das fand ich alles andere als aufbauend und habe Angies Lektüre gleich wieder verschwinden lassen. Ein paar Stunden später waren wir tatsächlich dort, wo dieses Uruk gewesen sein soll. Auch da gab es keinen Feind, nur alte Steine.

Zum Weiterlesen:Samuel Beckett: Warten auf Godot.Dante Alighieri: La Divina Comedia.Die Bibel. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Brief des Paulus an Titus, 1.2 Euripides: Iphigenie in Aulis.Gilgames. Epos um König Gilgames im Land der Sumer, ca. 2600 v. Chr.