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: Schröders Rede – ein gut getarnter Offenbarungseid

Nur mal kurz zusammengefasst: Der Kanzler einer rot-grünen Regierung hat gestern den drastischsten Sozialabbau der vergangenen Jahrzehnte angekündigt. Das Arbeitslosengeld wird beschränkt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, das Krankengeld vermutlich aus der gesetzlichen Versicherung ausgelagert, und Experten tüfteln an einer Rentenformel, die das Rentenniveau weiter senken wird. Schröder hat die Rede gehalten, die sich viele von ihm gewünscht hatten: ein konkretes Kürzungsprogramm, das zeigen sollte, dass er Herr der Lage ist.

 Aber die Rede ist kein Zeichen von Handlungsfähigkeit. Sondern ein Offenbarungseid, ein gut getarnter. Schröder ist kein Handlungs-Kanzler. Er ist ein Reaktions-Kanzler. Er hat schlichtweg das getan, was eine Mehrheit der Bürger in Deutschland auch gutheißen wird: den hohen Sozialbeiträgen den Kampf angesagt, der Mehrheit ein bisschen was an Kürzungen zugemutet, den schwächeren Minderheiten aber noch viel mehr. Das ist die Logik des sozialen Umbaus, die Schröder gestern nicht vorgegeben, sondern nur vollzogen hat.

 Nichts erinnert mehr an die Zeiten der Regierung Kohl, als sich Sozialdemokraten darüber empörten, dass CDU-Politiker die Arbeitslosenhilfe befristen wollten. Es war der CDU-Sozialminister Norbert Blüm, der die lange Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere einführte, die ein SPD-Kanzler jetzt wieder abschafft. Die alten Verlässlichkeiten der Sozialdemokratie gelten nichts mehr. Die Veränderung ist dramatisch.

 Schröder folgt einer Umdeutung, die sich schon länger in der Gesellschaft abzeichnet. In der öffentlichen Meinung wird der Sozialstaat mehr und mehr als Be- und nicht als Entlastung verhandelt. Darin liegt eine kalte Logik der kollektiven Sicherung: Gerade wenn es mehr und mehr Bedürftige gibt, wenn die Zeiten also schlechter werden, erwächst nicht mehr Solidarität. Im Gegenteil, Beitrags- und Steuerzahler ächzen dann unter der steigenden Abgabenlast. Und die sozialen Systeme sind zweifellos unter Druck, als Folge der hohen Arbeitslosigkeit und der immer älter werdenden Bevölkerung.

 „Senkung der Lohnnebenkosten“, sprich der Beiträge, das ist die Beschwörungsformel, die auch der Kanzler gestern herunterbetete. Für eine Mehrheit, die es wahrscheinlich hinnehmen wird, wenn Lebensrisiken, wie etwa Arbeitslosigkeit, mehr und mehr von der Minderheit der Betroffenen selbst zu tragen sind. Der Sozialstaat erkaltet. Der Kanzler hat gestern viel vom Zusammenstehen geredet – und in Wirklichkeit das Gegenteil verkündet. BARBARA DRIBBUSCH