Kleiner Wurf

Gerhard Schröders Regierungserklärung macht klar: Dieser Kanzler hat allenfalls eine halbierte Modernisierung im Angebot. Was fehlt, sind Perspektiven für die Zukunft

Aber er hat es reaktiv getan, ohne jeden Funken, der die Hoffnung auf einen Aufschwung zünden könnte

Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 14. März hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Zum ersten Male hat ein Bundeskanzler, noch dazu ein sozialdemokratischer, offiziell verkündet, der Sozialstaat brauche strukturelle Reformen und nicht nur Einsparungen hier und Mehreinnahmen dort. In seiner gegenwärtigen Form sei der Sozialstaat, so die Botschaft, eine der Ursachen für wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen.

Was der Kanzler konkret vorgeschlagen hat, hätte noch vor einem halben Jahr niemand in der SPD, CDU/CSU oder bei den Grünen auch nur laut zu denken, geschweige denn programmatisch zu formulieren gewagt. Das ist eine neue Tonart und ein neues Stück. Kohl, Blüm und Dreßler wirken plötzlich wie aus einem Sozialmuseum: Erinnerungen an eine gute alte Zeit.

Ein Paradigmenwechsel also, aber aus der Defensive, mit schlechtem Gewissen, ohne wirkliche Analyse der sozialen Veränderungen und Widersprüche. Was Schröder im Angebot hat ist allenfalls eine halbierte Modernisierung. Es fehlt jede Perspektive für die Zukunft: des Landes wie der SPD. Der zeitliche Horizont bleibt beschränkt auf das Jahr 2010. In der laufenden Dekade geht es aber noch gemütlich zu in Deutschland. Erst in 20 Jahren wird die Alterung der Gesellschaft auf ihren Höhepunkt zutreiben – mit allen Konsequenzen.

Die dann nötigen Einsparungen werden jene vom 14. März in einem nostalgischen Licht erscheinen lassen. Sie werden die Gesellschaft brutal spalten und viele in die Armut stürzen – wenn nicht in den nächsten Jahren die Weichen anders gestellt werden. Doch davon war nicht die Rede. Vieles blieb offen. Wie können wirtschaftliche Dynamik und gesellschaftliche Solidarität in einer veränderten Welt zusammen gedacht und neu organisiert werden? Auf die SPD zugespitzt: Gibt es einen sozialdemokratischen Weg in die Zukunft?

Die SPD steht vor einer ähnlichen Zäsur wie 1959, als die Partei Ballast abgeschüttelte und die Marktwirtschaft annahm. Aber das Godesberger Programm wurde nicht exekutiert, sondern debattiert. Der Abschied von der alten SPD ging nicht ohne Schmerzen, nicht ohne Trauer über einen Verlust: Der alte Glaube erfüllt nicht mehr, was er einmal verheißen: Wohlstand und Wohlfahrt. Gerade das Studium von Karl Marx habe die SPD dazu gebracht, ihr Programm zu ändern, beruhigte damals Ollenhauer, der biedere Vorsitzende, aufgebrachte Delegierte: ein rührender, aber immerhin ein Versuch, die Traditionslinien der SPD mit den Erfordernissen der Zukunft zu versöhnen.

Willy Brandt hat seine Partei als Vermächtnis daran erinnert, „dass jede Zeit ihre eigenen Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. Schröder hat mit beträchtlichem Mut Tabus geknackt: mehr als man erwarten konnte oder befürchten musste. Aber er hat es reaktiv getan, ohne jeden Funken, der die Hoffnung darauf zünden könnte, dass es wieder aufwärts geht.

Visionen könne und wolle er nicht liefern, bemerkt der Kanzler trotzig. Alles dreht sich um Haushalt, Wirtschaft und Arbeit. Das ist wichtig, aber nicht genug; denn die Probleme, die in diesen Bereichen bestehen, sind die Folgen, nicht Ursachen. Schröders (halbierte) Modernisierung bleibt eingesperrt in ein ökonomistisches Denken. Doch die Wirtschaft beginnt nicht mit der Wirtschaft, und sie hört auch nicht damit auf. Ja, es war auch noch von Bildung und Forschung die Rede. „In keinem vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland.“ Aber gerade weil das System ungerecht ist und von minderer Qualität, hätte man gern ein kleines bisschen Mut zur Veränderung auch hier gespürt.

Es ist wie in der Familienpolitik: Nirgendwo gibt es so wenig Kinder wie dort, wo ständig von Familienwerten die Rede ist. Nirgendwo haben begabte Kinder so schlechte Chancen wie dort, wo ständig Eliten beschworen und die Kinder möglichst früh selektiert werden. Auch sozialdemokratische Wege haben in den letzten 30 Jahren nicht zu mehr Chancengerechtigkeit geführt. Mehr Wettbewerb, selbstständige Schulen und eine frühkindliche Erziehung, bei der mehr und anderes geschieht als Betreuung, wären Stichworte für ein Umdenken. Bildung ist nur ein Beispiel für eine Gesellschaft, die hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Ein Land, das nichts hat außer den Begabungen der Menschen, steht oder fällt mit der Entfaltung aller Potenziale. Dazu braucht es eine andere Mentalität, eine andere Public Philosophy, in deren Mittelpunkt Entfaltung und Bewegung, Dynamik und Veränderung, Fähigkeiten und ihre Aktivierung stehen. Es ist nicht das geringste Verdienst der Regierungserklärung, dass sie für eine neue Balance zwischen Schutz und Aktivierung plädiert. Dazu gehört aber mehr als Sparen, Kürzen und Abbau des Sozialstaats. Parallel dazu ist der Aufbau von Gesellschaft nötig: die Wiedergewinnung des Sozialen an den Wurzeln der Demokratie.

Schröder hat mit beträchtlichem Mut Tabus geknackt: mehr, als man erwarten konnte

Das geht nicht, ohne dass ein intelligenter Staat jene Bühne wieder betritt, auf der der oft genug tumbe Staat der Industriegesellschaft gerade Platz macht. Das ist die Arena von Städten und Gemeinden. Halbierte Modernisierung meint all die toten Winkel der politischen Aufmerksamkeit, in denen sich das soziale Schicksal der Menschen und die soziale Qualität des Gemeinwesens entscheiden. Dass jetzt völlig unpolitisch über Gemeindefinanzreform gedacht und geplant wird, ohne zu überlegen, wie Kommunen wieder stark gemacht werden können als Orte der Politik, der lokalen Beschäftigung und der sozialen Inklusion, das ist eines der strategischen Versäumnisse, dessen Folgen bald zu besichtigen zu sein werden. Dass auch noch eine Million arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger an die Arbeitsämter verwiesen werden sollen, kann man nur noch als Satire bezeichnen: Schließlich hat ja die Bundesanstalt für Arbeit gerade bewiesen, wie vorzüglich sie ihre alten Aufgaben erfüllt; man kann ihr also getrost neue übertragen.

Für eine Modernisierung ohne blinde Zonen und Scheuklappen gibt es andernorts viele Vorlagen und Beispiele, konzeptionell wie praktisch. Manches davon hat der Kanzler, als es chic war, auch ausprobiert, um es dann wie alte Klamotten abzulegen: aktivierender Staat; investive Sozialpolitik; Zivilgesellschaft; Marktwirtschaft, nicht Marktgesellschaft; Beteiligungsgerechtigkeit waren Stichworte. Warum die Regierungserklärung in 90 Minuten und auf 21 Seiten keine einzige zündende Idee enthält, bleibt ein Geheimnis.

Ideen sind doch kein „Gedöns“, sie haben einen ganz praktischen Nutzen: Sie stecken an, setzen Motivationen frei, geben gute Gründe, warum Menschen sich anstrengen und Gewerkschaften ihre Beschlusslagen vergessen sollten. Es sind Ideen und Hoffnungen, nicht Bilanzen und Maßnahmen, die aus der Depression führen. Ohne Ziel sind alle Wege richtig. Aber man bricht leichter auf, wenn man ungefähr weiß, wo man ankommt. WARNFRIED DETTLING