Lass den B-Film rollen!

Der Superheld trägt rotes Leder: Mark Steven Johnson hat den Marvel-Comic „Daredevil“ verfilmt

Die Magie der von Stan Lee entwickelten Marvel-Comics liegt in ihren Abgründen. Jeder dieser Superhelden hat mindestens ein Leben jenseits des Superlativs, in das sein zweites Ich bedrohlich hineinragt: Die X-Men erfahren ihre eigene Mutanten-Existenz als Spaltung, und das Studenten- wie das Liebesleben von Peter Parker alias Spiderman leiden beträchtlich, wenn nächtliche Scharmützel gegen den Kingpin oder Dr. Octopus zu ausschweifend geraten.

Mark Steven Johnsons „Daredevil“, die jüngste der Marvel-Adaptionen, hat das Prinzip verstanden. Darum geht’s auch gleich los mit dem verletzten Helden im roten, zart behörnten Biker-Dress, der allem Anschein nach schon fast am Ende ist. Er hat sich in eine Kirche geflüchtet, Blut tropft dräuend vom Kreuze, und der herbeigeeilte Priester nimmt ihm bestürzt die Maske ab: „Oh Gott, Matthew!“

„Oh Gott, Ben Affleck!“, möchte man dagegenhalten, spart sich dann aber jede Bemerkung zum Hauptdarsteller, weil dafür keine Zeit ist. Schon wird in Windeseile erklärt, wie der kleine Matt Murdock aus Hell’s Kitchen sein Augenlicht und seinen Vater verlor, wie er dadurch einen sechsten Sinn entwickelte und sich schwor, fürderhin als Anwalt und (in jeder Beziehung) fühlender Superheld Daredevil den Kampf gegen der Welt Unbill aufzunehmen. Wer schuldig die Anklagebank dank Freispruch verlassen darf, wird stante pede vom roten Rächer heimgesucht. Der B-Film-Zug nimmt Fahrt auf, für mehr als unbedingt notwendige Erklärungen ist kein Zwischenhalt vorgesehen.

Derart klar auf Schauwerte, Star und düsteres Tempo (Daredevil kämpft nur nachts) geeicht, nimmt Johnsons Billig-Blockbuster jedes Klischeeangebot an, um es – vive l’exploitation – zeitsparend auszuschlachten. Erster Auftritt der weiblichen Heldin Elektra (Jennifer Garner)? Zeitlupe! Helden-Melancholie? Regen! Selbstzweifel (hehre Gerechtigkeit vs. blinde Rache)? Beichtstuhl! Sex? Bitte vorm Kaminfeuer! Umso dankbarer ist der Auftritt des Schurken Bullseye (Colin Farrell), der gegen alle Pietät eine endlos dozierende Großmutter auf einem Interkontinental-Flug durch gezieltes Erdnussschnippen für ewig zum Schweigen bringt.

Bis auf wenige Momente hält sich „Daredevil“ an das Prinzip, sich ganz auf die mit Tiefen garnierte Oberfläche des Comics zu konzentrieren. Echte Fans könnte zwar die wenig getreue Film-Variante des Kingpin (Michael Clarke Duncan) erzürnen – dafür aber darf diese Schurkenlegende dann auch das Marvel-Prinzip aussprechen: „In diesem Geschäft ist niemand unschuldig.“

JAN DISTELMEYER

„Daredevil“, Regie: Mark Steven Johnson. Mit Ben Affleck, Jennifer Garner u. a., USA 2003, 103 Min.