Schweden ist überall

Für einen Sommer hatten die Cardigans einst einen Hit, und alle Welt war in Nina Persson verliebt. Nun reüssiert die Band, nach Jahren in der Versenkung, mit gewohnt melancholischer Ambivalenz

von ANDREAS MERKEL

Es hätte ein sorgloser Sommer werden können. Aber stattdessen wurde 1997 das Jahr, in dem The Cardigans endgültig der große Durchbruch gelang. Sie stiegen umgehend zur noch vor den Cranberries meistgehassten Band auf. Grund dafür war ein einziger so genannter Welthit, vor dem es damals kein Entkommen gab: „Lovefool“.

An jeder Straßenecke, aus jedem Radio, in jedem Jeansladen wurde man von der zuckersüßen Stimme einer spröden Skandinavierin aufgefordert, sie zu superlässigen Easy-Listening-Rhythmen auch weiterhin zu lieben, lieben und betrügen, betrügen.

Mit verheerenden Folgen: Mädchen, die eigentlich mit fröhlichen Apfelkuchen-Gesichtern und gesundem Sauna-Sex-Appeal durchs Leben hätten tanzen können, wurden plötzlich zu Figuren wie aus Judith Hermanns Erzählungen und kokettierten heftigst mit dem „weiblichen Sich-selbst-ein-Rätsel-Sein“ (Frankfurter Rundschau): Lieb mich, lass mich, ach, ich weiß auch nicht. Die Jungs taten ihnen den Gefallen und verknallten sich reihenweise in die niemals lächelnde Cardigans-Sängerin Nina Persson. Weite Teile von Berlin-Mitte haben sich davon nie mehr richtig erholt.

Zum Glück griffen aber auch im Fall der Cardigans bald die Gesetze des Pop bei zu großem Erfolg: What goes up, must come down. Die fünf gar nicht mal so unsympathischen Schweden, die privat angeblich sowieso lieber Jazz und Heavy Metal als die eigene lauwarme Club-Lounge-Soße hörten, zahlten den Preis auf Krone und Öre zurück. Zunächst der kommerzielle Ausverkauf auf jeder zweiten Soundtrack-Compilation, dann mit „Erase and Rewind“ noch mal ein halber Hit und letzter Befreiungsschlag, danach Aufsplitterung und jahrelange Versenkung in diverse, konsequent erfolglose Soloprojekte (man ist ja nicht Sting). Und jetzt schließlich das große Comeback, das keinen mehr so richtig interessiert und bei dem die Instrumente im Studio erstmals live eingespielt wurden, sodass man vorläufig als Spex-Coverstory endete.

So viel zu den Rahmenbedingungen, unter denen man sich das neue Cardigans-Album „Long Gone Before Daylight“ dann tatsächlich zum ersten Mal anhört und plötzlich … – ja was? – die große Überraschung? Der späte Geniestreich? Alle Häme und Spott falsch? Fällt man vorm CD-Player auf die Knie, bettelt um Abbitte für die eigene Meinung und zelebriert hysterisch sein verspätetes Konvertitentum?

Nein. Auch wenn die Popkritik solche Märchen liebt, in denen plötzlich doch noch alles gut gefunden werden kann, bleiben die Cardigans die Cardigans, „berühmt“, findet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, „für einfachen, schön-traurigen Pop und die klare Stimme von Nina Persson“. Aber immerhin – und einigermaßen unerwartet – stimmt das diesmal sogar.

„Long Gone Before Daylight“ ist ein angenehm eingängiges Album, melancholisch-melodisch und erstaunlich konsistent durchkomponiert. Unter den elf Songs findet sich nicht ein Ausfall, allerdings – Gott sei Dank! – auch kein Hit. Man kann beim Hören der Musik wunderbar zur Ruhe kommen, und gleichzeitig bewahren schwungvolle Refrains einen davor, endgültig einzuschlafen.

Ein Problem bleibt allerdings Nina Persson, auf die sich immer noch alles konzentriert und der man mit ihrer puppig-hübschen, zuckerwatte-sanften Stimme mangels Modulationsfähigkeiten nicht ewig mit Genuss zuhören kann. Ihre Texte leiden überdies schwer an ihrer Alles-ist-so-ambivalent-Poesie, wo man’s Herz eben erst spürt, wenn’s schmerzt. Das schmutzigste Four-Letter-Word, das ihr in der ersten Single-Auskopplung „For What It’s Worth“ nicht aus dem Kopf gehen will, ist vermutlich auch nicht „Fuck“ oder „Cunt“, sondern – huch! – „Love“.

Bemerkenswert ist dafür aber das Bemühen um musikalische Authentizität und Bodenhaftung zum Klang der wahren Gitarre. Teilweise klingt das stark nach Sheryl-Crow-Country-Rock, teilweise sogar fast nach dem psychedelischen Pathos der Doors: „Blue blue, black and blue / red blood sticks like glue / true love is cruel love … oh, you hit me!“

„Long Gone Before Daylight“ könnte also auch heißen: Zurück zum Country, zurück nach Hause. Aber wo ist das?

Auf dem ganzen Album klingt am Ende ein deutlich spürbares Unbehagen an einer von Ikea und H&M ausgestatteten Gegenwart durch, eine Selbstkritik an dieser schwindeligen „Gran Turismo“-Heimatlosigkeit, zu der sie mit ihrer Musik ja auch immer schon den Soundtrack geliefert haben. Schweden ist längst überall, und Schweden, meinte Lou Reed einmal, Schweden mache ihm nun wirklich Angst.

Vielleicht kommt dieses Album deswegen ein bisschen zu spät. Es wird keinen sorglosen Sommer mehr geben. Die Mädchen mit den Apfelkuchen-Gesichtern sind alle längst verheiratet, und die Jungs sind alle Werbe-Designer geworden und arbeitslos.

Aber die Cardigans kann man jetzt wieder hören.