Den Dingen lauschen

Ein Leben aus Wörtern: Wilhelm Genazino begibt sich für seinen neuen Roman „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ zurück in die Adenauerzeit

von ANNE KRAUME

Den „Wunsch nach souveräner Zeitverschwendung“ haben viele der Helden aus den Büchern von Wilhelm Genazino gemeinsam. Zuletzt hatte der deutsche Autor mit dem italienischen Namen in seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ einen müßigen Flaneur durch die Frankfurter Innenstadt wandern lassen, dessen Beruf als Probeläufer für Luxusschuhe ihm dieses Dasein als Betrachter der „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ nicht nur ermöglichte, sondern geradezu aufzwang.

Die Formulierung vom „Wunsch nach souveräner Zeitverschwendung“ stammt nun allerdings aus Genazinos neuem kleinen Roman „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. Auch hier ist der Held ein Flaneur auf der Suche nach dem Einverständnis mit sich selbst. Aber anders als in den früheren Büchern ist es jetzt nicht ein Mann mittleren Alters, der versucht, die Balance am Rande des Scheiterns zu halten, indem er sich spazierend, denkend, betrachtend durch sein halb schon erledigtes Leben bewegt. Genazinos neuer Protagonist ist gerade 17 geworden, frisch vom Gymnasium geflogen und von den besorgten Eltern in eine kaufmännische Lehre bei einer Spedition gesteckt worden. Dennoch: Dieser junge Herr Weigand, dessen Vornamen wir nicht erfahren, teilt trotz des Altersunterschieds mit seinen flanierenden Vorläufern deren Leidenschaft für das scheinbar Nebensächliche, Alltägliche, das man entdecken kann, während man seine Zeit verschwendet.

Klar ist ihm zu Anfang jedenfalls eines: Es kann sich bei der Lehre, die er beginnen soll, in jedem Fall nur um eine Übergangslösung handeln. Vermutlich deshalb ist es ihm auch im Grunde egal, ob er bei einer Gärtnerei, einem Werbeatelier oder eben bei der Spedition anfängt: „halbbitter“, so seine Erkenntnis in einem Bewerbungsgespräch, wird die Situation hier wie dort sein. Dass seine Stimmung wie des ganzen Romans trotzdem nur halbbitter bleibt und nicht ganz bitter wird, das liegt an den Wörtern. Die Wörter leisten Lebenshilfe, wenn sie so plötzlich wie das Wort „halbbitter“ aus dem Nichts, aus der Schokoladenwerbung auftauchen und ins Bewusstsein des Helden sinken. Der will sich mit Wörtern beschäftigen. Lesen und schreiben, weiter nichts.

Als er beinahe zeitgleich mit Beginn der Lehre zum freien Mitarbeiter einer Lokalzeitung wird, beginnt ein glückliches „Doppelleben“. Tagsüber schreibt er Lieferscheine und Rechnungen in seiner Spedition, abends besucht er für die Zeitung Veranstaltungen, über die er nachts dann kleine Artikel verfasst. Seinem Ziel, „eine Frau, eine Wohnung, einen Roman“ zu finden, glaubt er schrittweise näher zu kommen.

Wilhelm Genazino pflegt eine melancholische Komik: So lässt er seinen Helden und Erzähler nicht nur sich selbst, sondern auch seine Umgebung mit leiser Ironie betrachten – eine Umgebung, die wie der Held gerade ins Leben hinauszutreten scheint: eine süddeutsche Industriestadt in der Adenauerzeit. Man sieht im Kino Musikfilme mit Peter Alexander, über die der frisch gebackene Rezensent im Stil seines Blatts „stark überzuckerte“ Berichte schreibt; man veranstaltet so genannte Je-ka-mi-Abende, jeder kann mitmachen, bei denen Verkäuferinnen namens Anke Bünnagel Caterina-Valente-Schlager zum Besten geben; und man fährt im Urlaub nach Italien. Der 17-jährige Weigand betrachtet diese Dinge mit Interesse und mit einer Distanz, die ihn immer ein wenig am Rande stehen lässt: „Ich hatte eine derart starke Peinlichkeit (und das rätselhafte Einverständnis mit ihr) nie zuvor gesehen“, stellt er bei einer dieser Gelegenheiten fest.

Weigand ist allein und hat eigentlich auch nichts dagegen, es zu sein. Kurz vor dem Abschied von der Freundin fällt ihm auf, dass die Literatur für ihn auch die Funktion hat, ein „Trennungshebel“ zu sein zwischen ihm, der liest, und denen, die das nicht tun.

Die Gefahr dabei, und auch das wird ihm bewusst, ist die Überheblichkeit, in die er mit seinem Sinn für die Nuancen, für die Wörter und für die Peinlichkeiten anderer Menschen zu verfallen droht. Wenn er sich deshalb am Ende des Romans gegen die Laufbahn als Redakteur und für die souveräne Zeitverschwendung entscheidet, dann auch deshalb, weil er dabei die drohende Überheblichkeit vermeiden kann. Und hier unterscheidet sich der Held dieses Romans schließlich doch von denen der früheren: Er ist jung und hat noch viel Zeit, die er beim Belauschen der Dinge vergeuden kann.

Wilhelm Genazino: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. Hanser, München – Wien 2003, 160 S., 15,90 €