Von Babylon bis Bagdad

Für die Eroberung umkämpfter Städte kennt die Geschichte viele Beispiele. Schon die Römer schickten Waffeninspektoren

Das Zerstörungswerkging erst richtig los, wenn der Gegner militärisch schon besiegt war

von RALPH BOLLMANN

Es war in allen Kriegen der Moment der Wahrheit. Die Truppen der Eroberer hatten sich rings um die gegnerische Hauptstadt zusammengezogen, und es begannen Tage des bangen Wartens. Wird die Stadt schnell kapitulieren wie Paris im Winter 1870/71 vor den preußisch-deutschen Truppen? Werden die Einwohner ihre Häuser, statt sie dem Feind zu überlassen, lieber in Brand setzen wie in Moskau beim Anmarsch Napoleons 1812 – damit der Angriff ins Leere läuft? Werden sie bis zuletzt Widerstand leisten wie die Deutschen bei der „Schlacht um Berlin“ im Frühjahr 1945? Oder werden sie die Eroberer, ganz im Gegenteil, sogar als Befreier begrüßen wie die Bürger des päpstlichen Rom beim Einmarsch italienischer Truppen im September 1870?

Namhafte Militärhistoriker haben ihr Urteil schon verkündet. Es gebe nur zwei Wege, so sagen sie, um den Straßenkampf in einer Großstadt zu gewinnen: Man müsse die Stadt entweder verwüsten oder aushungern.

Vor allem für die Erste der beiden Varianten kennt die Geschichte Beispiele zuhauf. Um eine eingenommene Kapitale zu „befrieden“, griffen die Eroberer nicht selten zu drastischen Methoden. Von Troja blieb nach der Einnahme durch die Griechen zunächst nicht mehr viel übrig, und auch die Römer leisteten bei der Annahme Karthagos ganze Arbeit. Als die Kreuzritter 1099 in Jerusalem einfielen, konnten sie alsbald „bis zu den Knöcheln“ im Blut der Sarazenen waten, wie Augenzeugen berichteten. Nachdem die Türken 1453 das christliche Konstantinopel erobert hatten, gestattete der türkische Sultan seinen Soldaten drei Tage unbeschränkter Plünderung. In der Neuzeit setzte sich die Zerstörungswut fort. Die Truppen des französischen Königs Ludwig XIV. zerstörten die pfälzische Hauptstadt Heidelberg 1689 und 1693 so gründlich, dass der Kurfürst seine Residenz alsbald ins neu gegründete Mannheim verlegte.

Eines allerdings ist den meisten dieser Beispiele gemein: Das Zerstörungwerk ging erst richtig los, nachdem der Gegner militärisch schon besiegt war. Vor allem die römische Kampagne gegen Karthago war von Anfang an auf Vernichtung angelegt. Obwohl von der Stadt jenseits des Meeres nach zwei verlorenen Kriegen keine Gefahr mehr ausging, wurde eine Clique römischer Falken nicht müde, die endgültige Vernichtung des Unruhestifters zu verlangen – angeführt vom älteren Cato, der jede seiner Reden mit den Worten beschloss, er sei „im Übrigen der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss“.

Es begann ein langwieriges Tauziehen um die militärische Abrüstung Karthagos, das in den Dritten Punischen Krieg mündete. Zunächst verlangten die Römer nur die Begrenzung der Flotte auf zehn Schiffe, dann die Abgabe sämtlicher Waffen, am Ende sogar die Verlegung der Stadt an einen strategisch weniger günstigen Ort. Als die Römer dann tatsächlich angriffen, konnten sie sich bestätigt fühlen: Die Karthager besaßen genügend Waffen, um sich drei Jahre lang zur Wehr zu setzen, also hatten sie sich über das Inspektionsregime offenbar hinweggesetzt.

Auch als die römischen Soldaten bereits in die Stadt eingedrungen waren, dauerten die Straßenschlachten noch zehn Tage. Am Ende ging die Stadt in Flammen auf. Die einstige Krisenregion Nordafrika wurde nach den Wünschen der Think Tanks vom Tiber neu geordnet. Sogar der Grundriss des neuen Karthago hatte dem römischen Raster zu folgen.

Ähnlich apokalyptisch gestaltete sich die „Schlacht um Berlin“ im Frühjahr 1945. Obwohl Luftangriffe bereits große Teile der Stadt zerstört hatten, brauchten die sowjetischen Soldaten noch volle zehn Tage, um den Widerstand zu überwinden. Am 22. April überschritt die Rote Armee die südliche Stadtgrenze, am 26. April eroberte sie den Kreuzberg, am 29. April erreichte sie das Regierungsviertel. Erst am 2. Mai kapitulierte der deutsche Stadtkommandant.

Unangenehm kann es für die Angreifer allerdings auch werden, wenn es zu Straßenkämpfen gar nicht erst kommt, weil die Verteidiger ihre Stadt kampflos preisgeben und sich in die Weite des Landes zurückziehen. So erging es Napoleon, als er im Spätsommer 1812 nach Moskau marschierte. Als er am 14. September in der Stadt einzog, wähnte er sich schon als Sieger. Doch einen Tag später stand die Metropole in Flammen, und der Zar dachte gar nicht daran, den Franzosen um ein Friedensangebot zu ersuchen.

Ungleich günstiger verlief ein halbes Jahrhundert später die Einnahme des päpstlichen Rom durch die Truppen des jungen italienischen Nationalstaats. Kaum hatten die italienischen Truppen den Belagerungsring um die Ewige Stadt gezogen, da begannen sie am 20. September 1870 auch schon mit dem Angriff auf die Stadt. Um 5.15 Uhr in der Frühe fielen die ersten Schüsse, bereits um 9.50 Uhr wehte auf der Kuppel des Petersdoms schon ein weiße Fahne.

Die Italiener hatten 49 Gefallene zu beklagen, auf der Seite des Papstes verloren 19 Soldaten ihr Leben. Die Zivilbevölkerung wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen, und bis auf eine Bresche in der antiken Stadtmauer blieb die historische Bausubstanz unangetastet.

Im Schlepptau der Invasionstruppe drangen auch die Korrespondenten der Weltpresse in die künftige italienische Hauptstadt ein – und was sie in den folgenden Tagen zu berichten hatten, war ganz nach dem Geschmack der italienischen Regierung. Die Römer, die sich während der Kämpfe abwartend verhalten hatten, feierten die ganze Nacht hindurch die Befreiung vom autoritären Regime der Päpste. Bei der obligaten Volksabstimmung sprachen sich wenige Tage später 99,9 Prozent der wahlberechtigten Römer für den Anschluss an den jungen italienischen Nationalstaat aus.

Auf besonders raffinierte Weise wusste der Perserkönig Kyros Straßenkämpfe zu vermeiden, als er 539 vor Christus Babylon eroberte, die damalige Hauptstadt des Zweistromlandes. Er ließ seine Soldaten Kanäle graben, um das Wasser des Euphrat umzuleiten, berichtet der griechische Historiker Herodot. Durch das trockengelegte Flussbett drang er schließlich in die Stadt ein.

Eine noch schnellere Eroberung auf dem Gebiet des heutigen Irak kündigt lediglich die Bibel an. „So wird in einem Sturm niedergeworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden.“ Den Zeitraum für den apokalyptischen Untergang der sündigen Metropole am Euphrat beziffert die Offenbarung des Johannes auf „eine Stunde“.