Schüler sind rigoroser als Studenten

Der Soziologe Dieter Rucht hat Antikriegsdemonstranten befragt: Schüler sind besonders aktive Kriegsgegner

BERLIN taz ■ Die Elterngeneration ringt wieder einmal darum, ihre Kinder zu verstehen. Seit deutsche Schüler massenhaft gegen den dritten Golfkrieg demonstrieren, sich Peacezeichen auf die Wangen malen und sich – wie in Hamburg – mit der Polizei prügeln, steht die Frage im Raum: Was folgt auf die „Generation Golf“?

An einer Antwort hat sich Dieter Rucht versucht, Soziologe am Berliner Wissenschaftszentrum. Rucht hatte auf der deutschlandweiten Demonstration am 15. Februar knapp 1.500 Fragebögen an Teilnehmer verteilt. Gut die Hälfte davon hat der Wissenschaftler ausgewertet. Sein Ergebnis lautet: „Die Schüler, nicht die Studenten, sind die Avantgarde des jugendlichen Protests.“

Denn während von den studentischen Demonstranten 46 Prozent schon mehrmals gegen irgendetwas protestiert hatten, liegt diese Quote unter Schülern bei 58 Prozent. Und das, obwohl der Anteil von Erstdemonstranten unter den Schülern mit 18 Prozent altersbedingt recht hoch ist. Außerdem hat Rucht herausgefunden, dass hinter dem Schülerprotest eine „rigorosere Haltung“ steht. Anders als ihre studentischen Mitdemonstranten zeigten Schüler sich zwar weniger aufgeschlossen für eine globalisierungskritische Haltung. Nur 52 Prozent der Schüler und immerhin 82 Prozent der befragten Studenten gaben sich globalisierungskritisch. Doch sei der Anteil „extrem linker“ Positionen unter den Schülern weit höher gewesen, berichtet der Wissenschaftler. Hier war das Verhältnis 24 zu 19 Prozent.

Da liegt es nahe, eine gehörige Portion Pubertät hinter dem Schülerprotest zu vermuten. „Im frühen Jugendalter ist man für die Widersprüche zwischen hehren Idealen und der davon weit entfernten Wirklichkeit empfindlicher“, begründet denn auch Rucht seine Ergebnisse. Mobilisierend wirke zudem, dass viele der heute demonstrierenden Schüler von 68er-Eltern erzogen wurden. Die Protestbereitschaft hätten sie „gleichsam mit der Muttermilch“ aufgesogen.

Nicht zuletzt böten Demonstrationen eine immer willkommene Abwechslung vom Schulalltag. „Demonstrationen bieten zuweilen Nervenkitzel, wenn begrenzte Regelverletzungen anstehen“, meint der Soziologe. Aufsichtspersonen kontrollierten heutzutage viele Lebensräume von Jugendlichen. Deshalb seien Streiks und Sitzblockaden eine willkommene Abwechslung vom Alltag. Schließlich fänden die Kinder auf der Straße auch jede Menge Beachtung und Anerkennung. „Demonstrationen sind Bühnen, um sich und seinen Standpunkt auszustellen“, sagt Dieter Rucht. Mit ein wenig Glück landeten die bemalten Gesichter der Jungen und Mädchen sogar auf den Titelseiten überregionaler Zeitungen.

Wie also sollen wir sie nennen, die Schülerprotestanten? Rucht vermutet, dass nur bei einer Minderheit von ihnen die Demonstrationserfahrung in politisches Handeln münden wird. Sie bilde das Potenzial für künftige Globalisierungskritiker, sagt er. Nennen wir die Kinder also Avantgarde in der Warteschleife.

MATTHIAS BRAUN