Alles Mueller oder was?

Unglaublich, aber wahr: Die Münchener Hypo-Kunsthalle zeigt die allererste Retrospektive zum Werk des Expressionisten Otto Mueller. Dabei gibt es derzeit ein massives Authentizitätsproblem

von STEFAN KOLDEHOFF

Hat man ihn tatsächlich noch nie in dieser Ausführlichkeit gesehen? Gab es tatsächlich im Nachkriegsdeutschland noch nicht eine einzige Retrospektive zum Werk des Expressionisten Otto Mueller, während doch kaum ein Monat vergeht, in dem nicht in irgendeinem Museum der Republik Kirchners Skizzenbücher, Heckels Druckgrafik oder Schmidt-Rottluffs Einkaufszettel zu kunsthistorischen Wiederentdeckungen aufgeblasen werden? Man hat nicht, und es gab nicht. „Niemand hat sich bislang getraut“, sagt Mario-Andreas von Lüttichau und blickt aus seinem provisorischen Büro in der Münchener Hypo-Kunststiftung hinaus auf die Theatinerstraße. „Niemand hat sich getraut, weil man bisher immer der Meinung war, die Gemälde von Otto Mueller dürften nicht transportiert werden. Er hat, um dem Fresko möglichst nahe zu kommen, meist mit Leimfarben auf eine sehr grobe Leinwand gemalt. Das macht seine Arbeiten tatsächlich fragil. Transportieren kann man sie aber trotzdem lassen.“

80 Gemälde, 45 Aquarelle und Zeichnungen und 31 handkolorierte Lithografien hat Lüttichau nach München transportieren lassen – so viel Mueller war noch nie in irgendeinem anderen Museum der Welt. Der überwiegende Teil der Leihgaben stammt aus Privatbesitz, viele Werke waren noch nie in der Öffentlichkeit zu sehen. Entsprechend opulent ist die Werkschau ausgefallen, die in der Münchener Hypo-Kunsthalle zu sehen ist. Weil sich Lüttichau gegen eine chronologische und für eine thematische Hängung entschieden hat, kann er nach einem Eingangsraum mit dem schmalen Frühwerk gleich aus dem Vollen schöpfen: Mit einer einzigen Ausnahme zeigt die Ausstellung sämtliche Bilder, die Otto Mueller von Liebespaaren malte – häufig sind seine eigenen Partnerinnen abgebildet. 1874 im schlesischen Liebau geboren, studierte Mueller kurz an der Dresdener Akademie, bevor er sich 1910 für kurze Zeit der „Brücke“ anschloss. 1919 erhielt der Autodidakt einen Ruf als Professor an die Breslauer Akademie, er arbeitete dort bis zu seinem frühen Tod 1930.

Die Darstellungen führen unmittelbar Muellers Meisterschaft vor Augen: Wie kein zweiter der großen Expressionisten meisterte er souverän die Aufgabe, menschliche Figuren formatfüllend wiederzugeben. Die Szenerie, in der sie agieren, ist Nebensache: Meist wählte Mueller den Wald, die Stadt interessierte ihn als Motiv ohnehin kaum. Mit sicheren Strichen setzt er seine Modelle um, kaum einmal scheint er ihre Positionen nachträglich verändert haben zu müssen. Keine Spur von Heckels zögerlicher Handschrift, nichts von Kirchners Unentschlossenheit im Hinblick auf die Dominanz von Figur oder Szenerie. Das fulminante „Liebespaar“ von 1919, das vor acht Jahren das Museum der Bildenden Künste Leipzig aus der Ravensburger Sammlung Selinka zurückerwarb, wirkt so frisch und modern, als sei es gerade erst nach einem Foto von Wolfgang Tillmans entstanden. Die folgenden Räume, in denen unter anderem Muellers „Badende“, seine Landschaftsbilder, Akte und die der Zigeunerkultur entlehnten Motive zu sehen sind, zeugen von nicht minderer Qualität. Der hervorragende Katalog, der die künftige Bezugsgröße für jede Mueller-Forschung sein wird, entlarvt dazu den beliebten Mythos, Otto Mueller sei in erster Linie der „Zigeuner-Mueller“ gewesen. Tatsächlich zeigen gerade einmal zehn Prozent seiner Werke entsprechende Motive; viele wurden aber posthum umbenannt, um besser ins romantische Zigeuner-Milieu eingereiht werden zu können.

Ursprünglich sollte die seit mehr als zehn Jahren vorbereitete Retrospektive im Essener Folkwang-Musuem stattfinden. Seit 1992 arbeitet Mario-Andreas von Lüttichau dort als Kustos gemeinsam mit seiner Kollegin Tanja Pirsig am dringend notwendigen Werkverzeichnis Otto Muellers. Seit der Kunstmarkt seinen Wert erkannte, gibt es ein massives Authentizitätsproblem: Gefälscht werden nicht allein die millionenteuren Gemälde, sondern auch Muellers Zeichnungen und sogar seine Druckgrafiken. Mit gefälschten Werken des deutschen Expressionismus hatte Folkwang-Direktor Georg-W. Költzsch aber bereits einschlägige Erfahrungen gemacht: 1998 löste er einen folgenschweren Skandal aus, unter dem der Ruf des Folkwang-Museums bis heute leidet. Damals stellte Költzsch gegen alle Warnungen etablierter Forscher angebliche Jawlensky-Zeichnungen aus, die sich, wie vorausgesehen, samt und sonders als gefälscht erwiesen. Um nun mit Mueller kein erneutes Risiko einzugehen, lehnte der inzwischen als Direktor abgetretene Költzsch das renommierträchtige Projekt für Essen angstvoll ab. Nun wird nach der Münchener Premiere immerhin noch eine abgespeckte Fassung auch ins Folkwang-Museum reisen. Das allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Werkverzeichnis liegt der Buchhandelsausgabe des Kataloges nun als CD-ROM bei und kann auf diese Weise, wenn nötig, kostengünstig aktualisiert werden.

Ausgerechnet der prominenteste Mueller-Sammler verweigerte für die erste Retrospektive jegliche Leihgabe. Lothar Günther Buchheim entschied sich stattdessen, zeitgleich zur Münchener Retrospektive in seinem Museum im oberbayerischen Bernried eine eigene Otto-Mueller-Ausstellung zu zeigen. Statt eines Kataloges ließ er seine Mueller-Monografie von 1968 neu auflegen – unverändert und, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse angeht, entsprechend inaktuell. Ohnehin, so ist in München zu hören, gelte inzwischen auch nicht mehr jeder Mueller in der Buchheim-Sammlung als echter Mueller.

Bis 22. Juni. Katalog (Prestel Verlag) 25 €, im Buchhandel (mit Werkverzeichnis auf CD-ROM) 59 €