„Auch die Grundschule ist nicht perfekt“

Der Didaktiker Hans Brügelmann warnt die Politiker davor, sich auf den Ergebnissen der Iglu-Studie auszuruhen

taz: Herr Brügelmann, die internationale Iglu-Studie stellt der deutschen Grundschule ein relativ gutes Zeugnis in der Vermittlung von Lesekompetenz aus. Sind Sie überrascht?

Hans Brügelmann: Ich bin erfreut. Die Grundschulen haben sich in den letzten zwanzig Jahren sehr intensiv um die Didaktik des Lesens gekümmert. Wir haben die Lehr- und Lernmethoden reformiert und die Pädagogik verändert. Das heißt, die Grundschule führt Kinder heute anders an das Lernen heran als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Mehr LehrerInnen gewähren den Kindern mehr Selbstständigkeit.

Von daher hatte ich gehofft, dass die Ergebnisse positiv sind. Sie sind ja deutlich besser als etwa vor 10 Jahren oder vor 30 Jahren. Allerdings ist so ein Rückblick schwierig, weil sich die Studien selbst verändert haben und weil auch nicht immer dieselben Länder teilnehmen.

Könnte das gute Iglu-Ergebnis auch darauf zurückzuführen sein, dass die gestellten Aufgaben für Viertklässler zu einfach waren?

Nein, überhaupt nicht. Die Texte sind für Grundschüler schwierig zu lesen und erstrecken sich teilweise über mehrere Seiten. Es werden Fragen behandelt, die in sehr anspruchsvolle Interpretationen münden. Von daher muss man eher sagen, dass Iglu eine große Herausforderung für die Viertklässler war. Umso erfreulicher ist das Ergebnis.

Aus der Pisa-Studie haben wir gelernt, dass es eine relativ große Risikogruppe unter den 15-Jährigen gibt: Ein Viertel der Jugendlichen hat erhebliche Verständnisprobleme beim Lesen. Meist stammen diese SchülerInnen aus bildungsfernen Elternhäusern, oder sie haben einen Migrationshintergrund. Gibt es diese Risikoschüler auch in der Grundschule?

Leider ja. In unserer eigenen Grundschulstudie haben wir festgestellt, dass es eine Risikogruppe von etwa fünf bis zehn Prozent der deutschsprachigen Schüler und etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Wir müssen uns weiter anstrengen, um allen Kindern die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen zu vermitteln. Auch in der Grundschule. Von daher kann ich nur davor warnen, das insgesamt positive Ergebnis so zu deuten, als wäre in der Grundschule alles in Ordnung.

Was unterscheidet den Leseunterricht in der Grundschule von den in weiterführenden Schulen?

Im Gegensatz zu den weiterführenden Schulen ist Lesen in der Grundschule der zentrale Bereich. In den Sekundarschulen wird dann davon ausgegangen, dass die Leseentwicklung schon abgeschlossen ist. Das ist ein großer Irrtum. Aber auch in der Grundschule läuft Leseunterricht schon in verschiedenen Klassen sehr unterschiedlich ab. Insofern wird das eine interessante Frage für die Interpretation der Iglu-Studie sein. Wir werden uns genau ansehen, welche Typen von Unterricht zu welchen Ergebnissen führen, und daraus wird man Konsequenzen ziehen müssen.

Der Grundschulverband hat vor einigen Tagen die deutschen Sekundarschulen als „Sanierungsfall“ bezeichnet. Ist das denn fair? So viel besser sind die Iglu-Ergebnisse ja auch nicht.

Es bleiben aber zwei Probleme in der Sekundarstufe. Das eine ist die Struktur. Die Dreigliedrigkeit, also das Nebeneinander von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, legt es den LehrerInnen nicht unbedingt nahe, sich um die lernschwachen SchülerInnen zu kümmern. Zweitens herrscht in der Sekundarschule wie in der Öffentlichkeit die Vorstellung: Lesen lernt man in der Grundschule, und dann kann man es oder man kann es eben nicht. Das ist eine falsche Vorstellung vom Lernen. Die Sekundarschule muss einsehen, dass Lesen ein lebenslanger Lernprozess ist.

Was bedeutet das?

Dass die Sekundarstufe lernen muss, die Kinder da abzuholen, wo sie stehen. Anregung und Förderung muss es auch nach der vierten Klasse noch geben. Die Sekundarschule kann nicht von fertigen Lesern ausgehen.

Was sind Ihre Wünsche für die öffentliche Diskussion um Iglu in den nächsten Wochen?

Ich hoffe, dass nicht sofort wieder wie bei Pisa Bewertungen und Folgerungen auf den Tisch kommen. Vor allem dass man die Ergebnisse der Studie differenziert liest. Was wir brauchen sind Studien, die uns einen genaueren Blick in die einzelnen Klassen erlauben. Zu denken gibt ja die große Streuung der Ergebnisse. Auch in unseren eigenen Studien zeigte sich, dass die beste zweite Klasse besser war als die schlechteste vierte Klasse.

Was heißt das für die Schule?

Der Unterricht macht den Unterschied. Die Qualität der initiierten Lernprozesse ist offenbar sehr unterschiedlich erfolgreich – und nicht nur, wie bisher angenommen, die Lernvoraussetzungen und Lernbedingungen der Kinder. Für solche Detailanalysen helfen uns aber keine Großstudien. Da müssen wir selber lernen, genauer hinzuschauen.

INTERVIEW: MARC BÖHMANN